Kaspar Hauser und die Schicksale Englands und Frankreichs

Dieser Vortrag wurde in leicht gekürzter Form erstmals von Terry M. Boardman am 3. August 2024 bei den alle zwei Jahre stattfindenden Kaspar Hauser Festspielen in Ansbach, Deutschland gehalten.

Guten Morgen. Ich freue mich sehr, nach sechs Jahren Pause wieder hier bei den Festspielen zu sein und ich bedanke mich nochmal herzlich bei Eckart Böhmer für die Einladung. Ich war 2004 zum ersten Mal hier und bin seitdem mehrmals hier anwesend. Es hat mich zunehmend ermutigt zu sehen, wie Eckarts Arbeit und die seiner Kollegen hier in Ansbach und anderswo diesen Impuls kultiviert haben, Möge er lange fortbestehen! Im Jahr 2022 konnte ich nicht dabei sein, aber Eckart hat freundlicherweise meinen Text vorgelesen. Dieses Jahr bin ich dabei, um meinen Beitrag selbst vorzulesen, muss mich aber wie immer entschuldigen, daß ich ihn vorlese, da mein Deutsch nicht gut genug ist, um mich frei auszudrücken. Das wäre zu anstrengend für Ihre Ohren! Da ich aber sicher bin, daß das, was ich vorlese, trotzdem hier und da in unnatürlichem Deutsch ausgedrückt sein wird, bitte ich Sie, diese Entschuldigung anzunehmen.

    “Wohin gehst du? Woher kommst du? Wenn dich jemand fragt, hoffe ich, daß du antworten kannst. Wohin gehen sie, die Leute da drüben? Woher sind sie gekommen? Wenn jemand sie fragt, weiß ich, daß sie es nicht antworten können. Wohin gehe ich? Woher komme ich? Wenn mich jemand fragt, weiß ich, daß ich antworten kann.” Diese sind Worte aus ein Musikstück daß das Titel „Where“ (Wohin) trägt  – ein Stück daß ich hatte sehr gern als Student an der Universität in den frühen 1970er Jahren. Damals war ich ein Fan einer Band namens Tony Williams Lifetime. Das war wohl die allererste Jazz-Rock-Band. Diese einfache Worte, habe ich später festgestellt, sehr viel mit der menschlichen Verfassung und der Frage nach der Identität zu tun haben. Die waren Fragen die, meines Erachtens, eng verbunden mit dem Thema ,Kaspar Hauser‘ sind. Sie haben an meine 18-jährige Seele sehr angesprochen. „Wohin gehe ich? Woher komme ich? Wenn mich jemand fragt, weiß ich, daß ich antworten kann.“ Damals konnte ich auf diese dritte Frage tatsächlich noch nicht antworten. Aber die Fragen drückten die Zuversicht und die Hoffnung eines jungen Menschen aus.

Das Album hiess “Emergency” (Notfall, Notlage). Die Telefonnummer, die man in England bei einem Notfall anrufen muss, ist 999. In den USA ist es 911. Hier in Deutschland 110 und 112, nicht wahr?  Wir stehen alle jetzt am Rande des Abgrunds eines großen Konflikts in Europa, nicht nur des Krieges zwischen Russland und der Ukraine, sondern eines Krieges zwischen Russland und der NATO: Russland und dem Westen. Es ist sogar möglich, daß in diesem Konflikt China einbezogen wird und die Krise zu einem echten Weltkrieg werden könnte. In einem solchen Fall ist es natürlich auch möglich, daß Atomwaffen irgendwann eingesetzt werden.

    Ein Krieg zwischen Russland und dem Westen war im Gange, als Kaspar Hauser am 29. September 1812 geboren wurde. Die Nachricht von seiner Geburt wurde dem Kaiser Napoleon überbracht, der damals in Moskau saß und vergeblich auf die Kapitulation von Zar Alexander von Russland wartete. Wahrscheinlich, sind seit 2022 insgesamt mindestens 500.000 Menschen im russisch-ukrainischen Konflikt schon ums Leben gekommen.  Napoleon hat etwa 600.000 Mann nach Russland geführt. Nur die Hälfte davon waren Franzosen, die andere hauptsächlich Deutsche und Polen, aber auch einige Niederländer, Belgier und Italiener. Es war eine Armee aus Mittel- und Westeuropa, die versuchte, Russland zu erobern.

    Mitten in dieser europäische Katastrophe wurde der kleine Prinz Kaspar von Baden hineingeboren, der Adoptivenkel Napoleons, dessen Adoptivtochter Stéphanie de Beauharnais die Mutter Kaspars war. Gaspard war der Name, den seine französische Mutter, eine kaiserliche Prinzessin, ihm geben wollte, aber er war zum Zeitpunkt seines angeblichen Todes zwei Wochen nach seiner Geburt noch namenlos, obwohl er eine Nottaufe erhalten hatte. In Wirklichkeit war er jedoch nicht tot, sondern entführt worden  – ausgetauscht gegen ein anderes, sehr kränkliches Kind. Es war dieses Kind, das zwei Wochen nach der Geburt von Prinz Kaspar gestorben ist, und dieses Kind wurde dann als der tote Babyprinz angekündigt. Das war eine öffentliche Lüge, die vor Kaspars Eltern, dem Großherzog und Grossherzogin von Baden, verborgen wurde. Die Nachricht von seinem Tod wurde auch an den Kaiser Napoleon weitergeleitet, der zu diesem Zeitpunkt seinen langen und katastrophalen Rückzug aus Russland angetreten hatte. Der große Kriegsmann Napoleon am anderen Rande Europas, dessen Handlungen das Schicksal von Millionen von Europäern so drastisch beeinflusst hatten und noch beeinflussen sollten, wurde auf diese Weise  sowohl über die Geburt als auch über den Tod dieses Säuglings informiert. Sieben Jahre nach Napoleons Tod, wurde in Nürnberg, im Herzen Europas, nicht der Kaiser Europas sondern das Kind Europas zu den Herzen der Leute genommen. In der Tat hatte Napoleon, für seine eigenen politischen und militärichen Zwecke die Ehe von Kaspars Eltern, Stéphanie de Beauharnais und Carl von Baden, arrangiert; das Ehepaar selbst hatte einander nicht heiraten wollen.

    Die deutsche Truppen, die Napoleon zum Einmarsch in Russland gezwungen hat, stammten aus Staaten, die nun zu Napoleons neuen deutschen Satellitenstaat, dem Rheinbund, gehörten, den Napoleon anstelle des alten Heiligen Römischen Reiches geschaffen hatte. Das Reich hatte er sechs Jahre zuvor auflösen lassen. Also, im Hintergrund der Geburt von Prinz Kaspar geschah dieser Krieg des Westens gegen den Osten.  Wenn wir uns heute, 212 Jahre später, mit dem Leben von Kaspar Hauser befassen, sehen wir erneut einen ähnlichen Krieg vor uns. Das ist bemerkenswert. Es war auch tatsächlich die Zeit in der Kaspar Hauser lebte, als Russland, besonders für die englische Elite, das “Feindbild” wurde. Diese Sichtweise auf Russland hatte sich in England bis zur Zeit Kaspar Hausers Tod 1833 schon durchgesetzt. Nach der Untergang Napoleons gab es für die englische Elite eine zentrale Frage im Mittelpunkt der auswärtigen Angelegenheiten, nämlich: “Wer könnte jetzt noch Indien von uns wegnehmen?” Die englische Antwort lautete: “Russland”. Dies war der Beginn der englischen Russophobie oder Russlandhass die seither bis heute anhält, eine paranoide Phobie, die sich auf die anderen englischsprachigen Länder dann ausgebreitet hat. Die verantwortliche Antwort auf diese Phobie kann nur m. E. gefunden werden, wenn wir ernsthaft zu fragen beginnen: „Wohin gehen wir? Woher kommen wir?“ Und dazu zwei andere Fragen: wie sind Ost und West eigentlich verwandt? Und wie haben sie sich getrennt?

 

Napoleon und Kaspar Hauser –  eine größere Polarität als diese beiden Figuren kann man sich kaum vorstellen – und doch sind sie miteinander verbunden, nicht zuletzt durch Napoleons eigenes Handeln. Um eigenen politischen und militärischen Zielen zu dienen, zwingt er Kaspars Eltern zusammen und er erweitet die Größe und Autorität Badens, des Staates, den das junge Ehepaar Karl und Stéphanie  gemeinsam regieren sollen.

    Nach der französischen Revolution und in der napoleonischen Ära stellte sich für viele denkende Menschen die Frage: Wie würde sich Europa im 19. Jahrhundert weiter entwickeln?  Würde es sich in traditioneller Weise entwickeln, wie zum Beispiel im Mittelalter oder im 18. Jahrhundert, das heißt, durch Krieg? Würde es sich durch brutale Wildheit und Abschlachten weiterentwickeln? Seit dem Stammesdenken des sogenannten finsteren Zeitalters vierzehnhundert Jahre zuvor, hatte sich die Völker Europas sich in eine Vielfalt politischer Staaten entwickelt. Von Stamm zu Staat. Wie würde es im neuen 19. Jahrhundert weitergehen? Einige der jüngeren europäischen Erleuchteten wie Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Novalis hatten bereits im späten 18. Jahrhundert begonnen, sich ein neues friedliches, harmonisches und vereinteres Europa vorzustellen, das nicht, sozusagen, vom Geiste des Mars, sondern vom Geiste der Philosophie oder vom Geiste des Christentums geprägt sein würde.

    Während des vorhergehenden Jahrtausenden hat sich allmählich der Einfluß des Christentums in Europa vertieft. Dann seit der Renaissance und besonders in der Zeit von 1760 bis 1830 war auch der Einfluß der griechisch-römischen Welt in Europa sehr stark. Als Reaktion auf diese Rückbesinnung auf die klassische Kultur der Antike und den damit verbundenen universalistischen Rationalismus und Intellekt schwang das Pendel in gerade dieser Zeitabschnitt in die entgegengesetzte Richtung: Partikularismus und Gefühlsleben, Nationalismus und Romantik.

    In diesselber kurzen Ära im deutschsprachigen Raum sehen wir damals eine wahre Konstellation bemerkenswerter Persönlichkeiten, die in vielen Bereichen der Gesellschaft aktiv waren und eine enorme Kreativität und Beweglichkeit des Denkens und Inspiration mitgebracht haben, die nur als zutiefst menschlich und heilend beschrieben werden kann. Etwas ganz Ausserordentliches ist in Mitteleuropa in jener Schwellenära geschehen, als die Aufklärung in die Romantik überging, etwas wirklich Außergewöhnliches. Man braucht nur einige der berühmten Namen aufzuzählen, die in dieser Zeit ihre Wirkung enfaltet haben: Kant, Klopstock, Lessing, Haydn, Beethoven, Mozart, Herder, Goethe, Schiller, Fichte, Hegel, Hölderlin, Mueller, Tieck, Schelling, Caspar David Friedrich, Hoffman, von Kleist, die Gebrüder von Schlegel, Schleiermacher, die Gebrüder von Humboldt, Brentano, von Arnim, Eichhorn, Schinkel, die Gebrüder Grimm, von Weber, Uhland, Heine, Schopenhauer, Schubert.

    Und dann ist in diese kulturelle Atmosphäre Mitteleuropas, die von dieser bemerkenswerten Geisterkonstellation befruchtet worden war und immer noch befruchtet wurde, 1812 in Karlsruhe ein namenloser Zähringerfürst geboren, der angeblich bald gestorben ist, doch Jahre später ist als Kaspar Hauser wieder aufgetaucht. Dieser Zähringer-Prinz hätte Großherzog von Baden werden sollen, dem schon damals wohl zukunftsweisendsten Staat Deutschlands, und dieser Prinz, hätte er nicht entführt und dann später ermordet worden, wäre im Vormärz 1848 in seiner 36 Jahr, in der Blüte seines Lebens sein. Die Charaktereigenschaften, die er auch nach seiner Entlassung aus der Einkerkerung an den Tag legte, und die wundersamen Fortschritte, die er in seiner Entwicklung zu einem jungen Mann machte, lassen erahnen, was für ein Fürst und Herrscher er hätte werden können. Anders als der nur ein Jahr ältere Sohn Napoleons, den sogenannten ‚König von Rom‘, der bis zu seinem Tod 21 Jahre lang vom österreichischen Kanzler Prinz Metternich in einem goldenen Käfig sozusagen  im Wiener Schloss Schönbrunn gefangen gehalten wurde und der von Krieg und Soldaten, militärischem Ruhm und der Nachahmung seines Vaters des Kaisers Napoleon immer träumte, zeigte dagegen Kaspar Hauser nichts  militärisches oder kriegerisches sondern erstaunliche Fähigkeiten zur Offenherzigkeit, zum Zuhören und Lernen von Mensch und Natur, zur Geselligkeit und künstlerischen Kreativität.

    Wäre diese als Sohn des Großherzogs Karl von Baden geborene Individualität nicht zwei Wochen nach seiner Geburt entführt worden und wenn er seinem Vater als Großherzog gefolgt wäre, dann wäre er, wie gesagt, 1848-49, zur Zeit der Revolutionen und des Frankfurter Parlaments, 35/36 Jahre alt gewesen. Natürlich könnte man einwenden, daß Kaspar Hauser, wenn er nicht entführt und fast 12 Jahre lang eingekerkert worden wäre und seine Entwicklung nicht so behindert worden wäre, dann hätte er  die bemerkenswerten Charaktereigenschaften und andere Talente nicht gezeigt, die später nach seiner Entlassung aus der Haft so offensichtlich waren. Aber angesichts des Charakters seines Urgroßvaters Karl Friedrich, seiner Mutter Stéphanie de Beauharnais und seiner Schwestern, ja sogar seines Vaters – dessen Charakter sich nach Jahren der jugendlichen Ausschweifung nach der Geburt seiner Kinder deutlich verbesserte und dessen Verhältnis zu seiner Frau, das anfangs sehr schwierig war, sich in den letzten 7 Jahren seines Lebens, bevor sie durch eine Ermordung auf grausame Weise beendet wurden, ebenfalls stark verbessert hat  – vor diesem ganzen familiären Hintergrund ist es zumindest denkbar, daß der junge Fürst Kaspar zu einem guten Fürsten, einem sehr fähigen Herrscher, und einem Mann von eher sozialer als kriegerischer Natur geworden wäre – einem Mann, der mit seinen persönlichen Eigenschaften und dessen Familienverbindungen sich über den ganzen Kontinent erstreckten, viel mehr aus den Möglichkeiten des Frankfurter Parlaments von 1848 hätte machen können als etwa Otto von Bismarck, der zwar bei der Versammlung anwesend war, dem aber fehlte die Vorstellungskraft, die historische Bedeutung des Ereignisses zu ergreifen. Bismarck, in seinen späteren Handeln an der Spitze der preußischen Außenpolitik ist er zu den alten kriegerischen Methoden zurückgekehrt. Es ist daher zumindest denkbar, daß Kaspar Hauser als Fürst mehr Konstruktives für den Frieden und eine gesunde Entwicklung in Europa hätte leisten können, als es die beiden “martialischen Realisten”, Napoleon und Bismarck, oder der träumende “Schwanenkönig”, Ludwig der Zweite von Bayern, vermochten.

    Man könnte weiter einwenden: Selbst wenn Kaspar Hauser zum Großherzog von Baden aufgestiegen wäre, wie hätte er, ein einziger Mann, als Fürst dieses kleinen Staates Baden die Geschicke Mitteleuropas maßgeblich beeinflussen können? Aber ein anderer deutscher Fürst eines noch kleineren deutschen Staates, der nur sieben Jahre nach Prinz Kaspar geboren ist, der würde die Geschicke eines viel größeren Staates, ja eines Weltreichs, maßgeblich beeinflussen. Das war Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, der 1840 die junge Königin Victoria, die Herrscherin des Britischen Empire, geheiratet hat. Albert und Victoria  waren beide im 21. Lebensjahr. Es würde hier zu weit führen, auf den Einfluss einzugehen, den Prinz Albert auf die Kultur und die Entwicklung des viktorianischen Großbritanniens in vielerlei Hinsicht ausübte, aber es genügt zu sagen, daß dieser Einfluss sehr groß war. Der englische Geheimratssekretär, Charles Greville, hat über Albert geschrieben: „… es ist offensichtlich, daß er, während sie [Viktoria] den Titel trägt, in Wirklichkeit die Funktionen des Souveräns ausübt. Er ist in jeder Hinsicht König“, und nach Alberts Tod 1861, im Übrigen am 14. Dezember, dem selben Tag in 1833 des tödlichen Attentats auf Kaspar Hauser, hat Benjamin Disraeli, der spätere Premierminister, über Albert gesagt: „Mit Prinz Albert haben wir unseren Souverän begraben. Dieser deutsche Prinz hat England einundzwanzig Jahre lang mit einer Weisheit und Energie regiert, wie sie keiner unserer Könige je gezeigt hat.“ Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war es möglich, daß ein einzelner Herrscher einen einzigartigen Einfluss auf die Geschicke seines Landes ausüben konnte.

    In die kulturgeschichtliche Atmosphäre in Mitteleuropa die ich früher erwähnt habe, wurde also der Prinz von Baden hineingeboren, dessen Individualität, ich, dem deutschen Historiker Karl Heyer anknüpfend, möchte als „quecksilbrig“, „merkurial“ bezeichnen, womit Heyer meint, daß sie dem Bereich des Mittleren, des sozial Heilsamen angemessen ist.

   Wenn ich dies über Kaspars Charakter und die Möglichkeiten für Baden und für Deutschland wenn er tatsächlich Großherzog von Baden geworden wäre, vorlege, dann will ich nicht in einer sentimentalen und morbiden Weise beklagen, daß Deutschland sozusagen seine Schicksalsfähre verpasst hat. Vielmehr geht es mir darum, den unterschiedlichen Charakter von Kaspar Hauser gegenüber Napoleon zu kontrastieren: den merkurialen gegenüber den martialischen. Bei dem Versuch, die Geschichte zu verstehen, scheint es mir wichtig, das Kontrafaktische, das Gegenteilige, in einem geschichtlichen Prozess zu erfassen: nicht nur zu sehen, welche Wege ein Volk oder eine Gesellschaft in einer bestimmten Epoche eingeschlagen hat oder als Reaktion auf eine bestimmte Krise eingeschlagen hat, sondern auch, welche Wege nicht genommen wurden – zu spüren oder zu sehen, was in einer bestimmten Epoche möglich war, welche Alternativen da waren. Auf diese Weise können wir etwas aus der Vergangenheit lernen, das sich auf die Gegenwart oder Zukunft anwenden lässt. Es ist doch immer möglich, nicht wahr, daß unterwegs auf einer Reise können wir feststellen, daß wir irgendwo, irgendwann vorhin falsch abgebogen sind, und dann können wir noch einmal darüber nachdenken, welche Abzweigung wir hätten nehmen sollen.

Im Jahr 1920 (22/23.10.1920 GA 200, Dornach) hat Rudolf Steiner über ein europäische Dreigliederung ausgeführt  – nicht die übliche europäische Dreigliederung, die sich auf den Osten, die Mitte und den Westen Europas bezieht, oder die andere Dreigliederung vom Kulturleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben sondern eine, die mit den Volksveranlagungen und Aufgaben dreier westeuropäischer Völker zu tun hat: der Deutschen, der Engländer und der Franzosen. Darüber hat der Historiker Karl Heyer Folgendes geschrieben; ich zitiere:

Die Deutschen haben die Veranlagung für das Geistesleben, die Franzosen für das Juristisch-Staatlich-Politische, die Engländer eine solche für das Wirtschaftliche…. Hier haben wir einen bedeutsamen Hinweis auf einen wichtigen Komplex, auf den es dabei ankäme. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts erscheint also insofern als die  Geschichte dessen, was in Bezug auf dieses notwendig gewesene… Zusammenleben und Zusammenwirken der drei genannten europäischen Völker geschehen oder nicht geschehen, von der Entwicklung gleichsam erstrebt in Wirklichkeit aber kontrekarriert worden ist. Ganz auf der Linie eines solchen Zusammenwirkens und Sichergänzens der Völker hätte gelegen was wir … über ein Zusammenwirken  zwischen dem Politisch-Formgebenden des Franzosentums und dem Geistigen (bzw. Geistig-Sozialen!) Mitteleuropas meinten. Dem  hätte sich  als das Dritte  an- oder eingliedern mögen die Wirstschaftsmission der Briten, die von vornherein auf die grösste Weltweite veranlagt war…. Man kann tief empfinden, wie ein solcher  wahrhaft zeitgemässer und produktiver Zusammenklang der Völker und der sozialen Lebensgebiete von Europa ausgehend das...[moderne] Zeitalter sachgemäss hätte vorbereiten und in diesem dann heilbringend auch in die grösseren Weltzusammenhänge ausstrahlen können. Und gerade an einer solchen Gestaltung der Dinge hätten den denkbar grössten Anteil  diejenigen Impulse nehmen können, die von der von uns  gemeinten grossen spirituellen  Individualität [Kaspar Hauser] hatten ausgehen wollen. Hier wäre im eminentesten Sinne ihre Wirkenssphäre gewesen.

Also, wir können in den drei  Völkern, die Franzosen, die Briten und die Deutschen,  eine gewisse Dreifaltigkeit beobachten. Die drei Völker  haben alle keltische und germanische Wurzel, und auch einige römische Wurzel damit.

 

England

Allerdings ist noch ein wichtiges Element im britischen Volk  das der Wikinger. Diejenige Wikinger die nach die britische Insel und nach Irland gesegelt und sich niedergelassen haben waren Dänen und Norweger. Die Wikinger waren  von der harten Welt des kalten Nordens geprägt: kühn, erfindungsreich, rücksichtslos, gewinnsüchtig, und kommerziell orientiert -  Plünderer und Händler: „raiders and traders“, wie wir im Englischen sagen. Die waren Völker mit großer Fähigkeit zur Zusammenarbeit für gemeinsame Ziele, die sie z. B. für ihre Seereisen benötigten, aber die Wikinger waren auch Menschen mit großem persönlichen Ehrgeiz, so daß sie sich bei ihrer Ankunft in einem fremden Land oft trennten und eigenen Wege gingen.   Die Wikinger die nach England gesegelt sind versuchten 250 Jahre lang, England zu überfallen, dann sich dort niederzulassen und das ganze Land zu erobern. Im Jahr 1066 gelang es ihnen endlich. Die Normannen waren selbst Wikinger, die sich erst 150 Jahre zuvor im Nord-Frankreich niedergelassen hatten. In Nordengland, wo viele Wikinger einsiedelten, gibt es ein Sprichwort: „where there’s muck, there’s brass“, was soviel bedeutet wie „wo Dreck ist, d.h. guter Boden, da kann man Geld machen“. Die Wirtschaft, der Handel, der Land- und Eigentumsbesitz – all das wurde mit der Zeit zum Mittelpunkt der englischen Kultur. Entstanden ist das englische Parlament um den König mit Steuern zu versorgen. Die erste wirklich globale Handelsgesellschaft der Welt, die East India Company, war nicht nur eine Handelsgesellschaft, sondern sie darstellte fast ein Staat in sich selbst, mit eigener Armee, eigenen Hochschulen und anderen Einrichtungen. 250 Jahre lang war diese Gesellschaft, unterstützt von der Royal Navy, die treibende Kraft des britischen Empire. Ursprünglich aber hatte das wesentlich nicht so viel mit Religion oder Politik sondern mit dem Wirtschaftsleben zu tun.

    Anders als bei den Deutschen, die Philosophie ist keine englische Stärke und im Musikalischen 200 Jahre lang, in den Jahrhunderten der britischen imperialian Ausdehnung und Industrialiserung hindurch, brachten die Engländer keine nennenswerten Komponisten hervor. Anders als in Frankreich, haben die Engländer keinen Respekt vor den Intellektuellen. Im politischen Leben in England,  hat in den letzten drei Jahrhunderten wenig entwickelt. Die Engländer halten an ihren langjährigen Traditionen fest, an ihrer Monarchie, ihrem Respekt für die Zentralregierung, ihrem Zweiparteiensystem und ihren besonderen parlamentarischen Eigentümlichkeiten und Gewohnheiten. Sie neigen dazu, politischen Neuerungen zu misstrauen oder sie zu meiden. Im Gegensatz zu den Franzosen neigen die Engländer dazu, der Autorität zu gehorchen, auch wenn sie viel murren, und sie haben Revolutionen vermeidet. Die gelegentlichen Unruhen sind bald vorbei; der lang anhaltende Bergarbeiterstreik in  1984/85 war eine Ausnahme von der Regel. Nur einmal in englischen Geschichte, im Bürgerkrieg der 17. Jahrhunderts, sind sie als Volk politisch außer Kontrolle geraten. Dabei wurden sie unter anderem zum ersten Volk in Europa, das seinen König nach einem Prozess öffentlich hingerichtet haben.

 

Frankreich

Im deutschen Form des Namen des Landes der Franzosen  - Frankreich – steht das Wort ‚Reich‘. ‚Frank’ oder ,Franken’ heißt etymologisch kühn, wagemutig, offen oder frei. Das ‚Reich‘ in Frankreich erinnert uns daran, daß der französische Staat oder das französische Königreich bis in die Zeit Chlodwigs, des merowingischen Franken, und seine Beziehung zum Papsttum und zum Erbe Roms zurückreicht. Wir können an Karl den Großen und sein fränkisches Reich denken und daran, wie die Franken allmählich zu Franzosen wurden. Oder auch an Ludwig IX. und sein erhabenes Konzept des französischen Monarchen, daran auch, wie Philipp der Schöne (Philipp IV.)  die Anfänge des modernen, zentralisierten, bürokratischen Staates geschaffen hat und wie Ludwig XI. den französischen Staat konsolidiert hat. Dann kam der politische Absolutismus mit Franz I. und „L’etat c’est moi“ von Ludwig XIV. Dann die Vielfalt des einflussreichen französischen politischen Denkens im 18. Jahrhundert, mit Voltaire, Montesquieu, Condorcet, Desmoulins, Robespierre  und Babeuf bis hin zum Code Napoleon, Saint Simon,  de Tocqueville und Comte. Die Franzosen haben im Laufe der Jahrhunderte ein Genie für politisches, juristisches, militärisches und diplomatisches Denken bewiesen.

     Im Napoleon Bonaparte zeigte sich eine ausserordentliche Individualität ganz anderer Art im Vergleich mit derjenigen von Kaspar Hauser. Kein Franzose, sondern ein Korse, ein Mann, der buchstäblich vom Mittelmeerraum stammt, und dessen Vorname an die vulkanische Stadt Neapel erinnert und der das französische mit dem italienischen Element verbindet. Napoleon versucht, Europa auf eine Weise zu vereinen, die es seit der Römerzeit nicht mehr gegeben hat – d.h. mit den alten, traditionellen Methoden des Mars, Methoden die die Römer der Antike sicherlich anerkannt hätten. Wie die römische Legionäre, ehrten die Truppen Napoleons ihre Adlerstandarten. Zum Erstaunen seiner Zeitgenossen reiht Napoleon sich sehr schnell in die Riege der militärischen Genies ein, zu denen gehören Gestalten wie Alexander der Große, Hannibal, Julius Cäsar und Dschingis Khan. Dagegen ist Napoleon aber auch ein moderner Mensch, indem er aus keiner hohen Position in der Gesellschaft stammt, sondern  aus eigener Kraft seinen Weg an die Spitze geschafft hat. Nach seiner Niederlage im Jahr 1815, gefangen auf der britischen Atlantikinsel St. Helena, wie Prometheus an seinen Felsen gekettet, und im Rückblick auf eigenen Leben, betont Napoleon, daß sein wahres Ziel die Einigung Europas, die Schaffung eines neuen Europas, gewesen sei. Doch war Rudolf Steiner der Ansicht, daß Napoleon – so Steiner – „seine Lebensaufgabe vergessen“ hatte: Anstatt zu versuchen, die Europäer auf eine neue und moderne Art und Weise zusammenzubringen, die die wunderbare Vielfalt der europäischer Kulturen, Religionen und Lebensweisen friedlich widerspiegeln würde, und die alten dynastischen Staaten in neue und lebendige Strukturen merkurialisch verwandeln könnte – anstatt auf der französischen innewohnenden Veranlagung zum gesellschafts- politischen Denken aufzubauen und diese weiterzuentwickeln, versuchte Napoleon, die Europäer zusammenzuzwingen,  - angeblich im Namen der neuen Ideale der französischen Revolution  - und die Europäer in ein neues, intellektuell-geprägtes, einheitliches, effizientes System zu zwingen, ein System aber das gleichzeitig mit Blut, Familie und Dynastie eng verbunden war – die alten Merkmale der Welt des Mittelmeers, von Griechenland und Roms, der kriegerischen italienischen Fürsten der Renaissance und der konkurrierenden Blutlinien der Mafiafamilien. Napoleon setzt eigene Familienmitglieder an die Spitze mehrerer europäischer Staaten. Stéphanie de Beauharnais war auch eine von ihnen. Er wendet sich im Laufe seiner Karriere gegen die meisten europäischen Königreiche, einschließlich des Papsttums, versucht aber, sich selbst zu einem neuen, unheiligen römischen Kaiser von Europa zu machen. Er wagt es – dieses Phänomen Napoleon, das gleichzeitig so modern und doch so atavistisch erscheint – die Krone auf eigenes Haupt zu setzen. Er schafft das alte Heilige Römische Reich ab und errichtet stattdessen ein neues, vereinfachtes römisches Reich nach einem einheitlicheren Muster, das sich an den Praktiken des nachrevolutionären Frankreich orientiert. Was wird erzwungen aber durch die modernen Armeen und den Geist des Mars heißt… Uniformität. Diese war bereits im 18. Jahrhundert von Frankreich aus nach Mitteleuropa eingedrungen – im Militärgeist des Preußens von Friedrich dem Zweiten, zum Beispiel. Doch Napoleon versuchte, diese Uniformität und Zentralismus noch viel weiter und tiefer voranzutreiben.  In diesem Sinne sagte Rudolf Steiner daß Napoleon seine Mission vergessen hatte; er hatte vergessen, wozu er eigentlich gekommen war  nicht im geographischen Sinne sondern im geistigen –  und doch können wir in seiner Biographie und in seinen Worten und Taten, trotz seines großen Einsatzes von Gewalt, Beispiele dafür sehen, was er vergessen hatte.

In den Worten von Karl Heyer: „dieser Auftrag hing namentlich dahin in seiner kommenden Inkarnation einen wesentlichen Beitrag zu einer friedlichen Einigung Europas zu leisten….Nehmen wir nun aber einmal an…Napoleon hätte seinen Auftrag nicht vergessen, sondern wie vorgesehen in dessen wahren Sinne gewirkt, dann hätte er aus spirituellen Impulse eine Einigung  Europas herbeigeführt. ER, der selbst ja ein Umfassenderes repräsentiert als nur Frankreich, hätte aber offenbar das, was als besondere, politisch formende sozialbildnerische Fähigkeiten und Kräfte im Franzosentum lebt, in den Dienst einer grossen zeitgemässen Zukunftsmission gestellt und so von dieser Seite her das neue… Zeitalter vorberitet und damit zugleich das, was dessen soziale Auswirking ist…Napoleon wäre, so können wir es vielleicht ausdrücken, ein wahrer „Vater Europas“ geworden. An diese Wirksamkeit Napoleons hätte jene grosse Individualität [Kaspar Hauser], die sich 1812 in dem badischen Erbprinzen, Napoleon schicksalhaft so nahe, verkörperte, anknüpfen können, sie in voller Harmonie  mit ihr weiterführen und ergänzen aus der Kraft des wahren mitteleuropäischen Geistes, aus der Kraft insbesondere des deutschen Geisteslebens  heraus. So hätten dem mehr Politisch-Formhaften starke spirituelle Inhalte gegeben werden können und dem Ganzen eine Wendung in das Soziale, eben im Sinne eines Übergangs zu dem bevorstehenden neuen Zeitalter… Aber Napoleon „vergass“. Er wurde nicht ein wahrer „Vater Europas“, sondern der vielfache Inaugurator des Gegenteils oder der Gegenbilder dessen, was in seinem wahren „Auftrag“ gelegen hätte, ein Inaugurator nämlich des Materialismus, des Militarismus, des Nationalismus, ein mächtiger Förderer des Einheitsstaats im funktionellen Sinne. …Napoleons Vergessen  liegt ganz auf der gleichen Linie  wie die Fehlentwicklung der französischen Revolution, deren Erbe er bekanntlich wurde. Sein Vergessen und diese Fehlentwicklung gehören eng zusammen. Und zusammen erzeugten sie jene Zerr- und Gegenbilder dessen, was aus der grossen positiven Inspiration  des Zeitalters hätte inauguriert werden sollen, und machten es dessen Gegnern, die aus ihrem egoistischen Machtstreben heraus eine solche neue Welt gar nicht wollten, leicht, zum Kampfe gegen die Revolution und Napoleon mit vieler Berechtigung aufzurufen und diesen Kampf schliesslich zum siegreichen Ende zu bringen.“

 

    Was ist dann in Frankreich, Deutschland und Großbritannien durch das Vergessen Napoleons und die Beseitigung Kaspar Hausers geschehen? Karl Heyers Antwort, die mir sehr treffend zu sein scheint, ist Folgendes:

    Frankreich kam nicht hinaus über seinen „Etatismus“, und es wurde zum grössten Impulsator des Nationalismus. Statt eine grosse europäische politische Mission auszuüben, verfiel es der routinehaften   Politikasterei. Deutschland fand nicht einen geistgemässen Weg vom  deutschen Idealismus  und vom Goetheanismus in das Politisch-Soziale. Die Impulse der grossen Individualität, die sich hier verkörpert hatte [d.h. in Kaspar Hauser], blieben unausgelebt, und die Wirkungen davon erstanden auf allen Gebieten. Englands… Wirtschaftsmission wurde zunehmend  in den Dienst einseitiger Machttendenzen im Sinne eines weltwirtschaftlichen Imperialismus gestellt und geriet immer mehr in den Bannkreis materialistischer, die Welt gewissermassen wirtschaftlich „überfremdender“ Impulse.

[Bild: David Newbatt]   

Kaspar wurde geboren, als Napoleon im Alter von 43 Jahren gerade in die Phase eingetreten war, die manche Biographieberater als die Mars-Phase der menschliche Biographie bezeichnen, d.h. die Zeit von 42-49, die für viele Menschen die Zeit der Krise mitten im Leben darstellt. Als Napoleon 1821 gestorben ist, befand sich Kaspar, damals 9 Jahre alt, in der Merkur-Phase seines eigenen Lebens. Die Merkur-Phase dauert von 7-14 Jahre alt. Es war für Kaspar eine Zeit, die er in fast völliger Dunkelheit und Stille durchleben musste.

     33 Jahre nach dem Tod Napoleons haben die Westmächte England und Frankreich, unter der Führung von Kaiser Napoleon (III.) dem Dritten mit dem Krimkrieg (1853-65) ihren Angriff auf Russland – die gleiche Aggression die Napoleon Bonaparte führte als Kaspar Hauser 1812 geboren wurde – und 1860 führten die beiden Mächte gemeinsam Krieg gegen China. 33 Jahre nach Kaspar Hausers Tod hat Bismarcks Preußen im Österreichisch-Preußischen Krieg von 1866 Österreich besiegt. Man kann sich fragen: War dies vielleicht die Folge der Abwesenheit in Mitteleuropa des heilenden Einfluss, dessen Möglichkeit 33 Jahre zuvor abgeschafft worden war? Das dualistische Staatswesen, das als Österreich-Ungarn bekannt ist, war eines der Ergebnisse dieses Krieges.  Es basierte auf der gemeinsamen Herrschaft von zwei Volksgruppen – von den Deutschen und den Magyaren – über viele andere, kleinere Gruppen und führte schließlich zu dem politischen Konflikt auf dem Balkan, der 1914 den Auslöser für den Ersten Weltkrieg gebildet hat.

    Es könnte sein daß Napoleon dazu bestimmt war, seine Rolle in der europäischen Geschichte zu spielen, bevor der Merkur-Geist Kaspar Hausers seinen heilenden Impuls zur Geltung bringen konnte. Wir haben es hier also mit zwei gegensätzlichen Figuren zu tun, einer Mars-Figur und einer Merkur-Figur, deren Schicksale dennoch durch die Französin Stéphanie de Beauharnais miteinander verbunden sind.

1836 wurde in England der erste Band eines bemerkenswerten und äußerst komplexen Buch über die Geschichte der Religionen in aller Welt und die Verbindungen untereinander veröffentlicht. Der Autor war ein liberaler Richter, Godfrey Higgins, der vier Monate vor Kaspar Hauser gestorben ist. Higgins war Freimaurer und stand in enger Verbindung mit dem herausragendsten englischen Freimaurer seiner Zeit, dem Herzog von Sussex, dem sechsten Sohn von König Georg dem dritten. Vom Jahre 1813 war der Herzog 30 Jahre lang bis zu seinem Tod Großmeister der englischen Freimaurerei. Er betrachtete sich selbst als kosmopolitischer Mensch der Aufklärung und setzte sich dafür ein, alle verbliebenen christlichen Bezuge aus der Freimaurerei und ihren Ritualen auszulöschen, nicht zuletzt, um die nichteuropäische Prinzen und Herrschern im Britischen Empire den Beitritt zur englischen Freimaurerei zu erleichtern. Nach Godfrey Higgins’ ‚bescheidene‘ Meinung waren er selbst  und der Herzog die sachkundigsten Freimaurer in England.

     Sein Buch, an dem er 20 Jahre lang täglich 10 Stunden arbeitete, hat den Titel Anacalypsis und sollte zeigen, daß alle Religionen einen gemeinsamen Ursprung haben. Ein Hauptmerkmal dieses einflußreichen Buches (unter anderen wurde die Gründerin der Thesophischen Gesellschaft, H.P. Blavatsky, durch das Buch viel beeinflußt) betraf den so genannten Neros-Zyklus von 600 Jahren oder 7200 Sonnenmonaten (solar Monaten?) in der menschlichen Entwicklung. Dabei handelte es sich um einen Zyklus von Konjunktionen der Sonne und des Mondes; nach 600 Jahren würden sich Sonne, Mond und Sterne alle in den gleichen zu einander relativen Stellungen befinden wie 600 Jahre zuvor. Higgins, der sich auf frühere Schriftsteller und Astronomen gestützt hat, z.B. Flavius Josephus und Giovanni Cassini, berichtet, daß etwa alle 600 Jahre ein bemerkenswerter Führer, Lehrer oder Reformer geboren wird – ein Avatarfigur, sozusagen. Der Neros-Zyklus wird nicht von diesen besonderen Menschen verursacht; der Zyklus bereitet sozusagen den geistigen Boden der Menschheit vor, auf dem solche großen Persönlichkeiten wirken können. Higgins spricht von dem persischen König Kyros dem Grossen und von Buddha, Apollonius, Jesus und Mohammed, auch von den religiösen Reformern um das Jahr 1200 nach Christus, und der nachfolgende Zyklus, sagt er, war um 1800 begonnen. Der Neros-Zyklus war keineswegs weit bekannt, außer bei Esoterikern oder Forschern wie Higgins selbst.

     Thomas Henry Burgoyne, ein solcher Esoteriker später im 19. Jahrhundert, hat auch viel von dem Higgins-Buch gelernt.  1885/6 hat er geschrieben daß die großen Individualitäten, die mit der Vollendung eines Neros-Zyklus erscheinen „vergleichsweise unbekannt in der Welt ihres Wirken entfalten  werden; diese Menschen werden von denen, die sie kennen, als gewöhnliche Individuen angesehen werden; sie werden die übelste Verfolgung durch das Element erleiden, das die Kraft der Prinzipien fürchtet, die diese besonderen Menschen hinter sich lassen werden. Ihre besten Freunde werden, obwohl sie über das wahre Wesen dieser Menschen im Unklaren sind, ihre Wirklichkeit erst dann begreifen, wenn sie weggegangen sind … erst dann werden diesen Menschen vollständig bekannt sein, wenn sie das Tal des Todesschattens durchschritten haben und diese Welt keine Macht mehr hat, sie zu schmeicheln oder sie zu verurteilen.“

    Thomas Henry Burgoyne war jedoch selbst kein Heiliger. Er war eine der führenden Persönlichkeiten einer kurzlebigen, aber unheimlich einflußreichen anglo-amerikanischen okkulten Gruppe in den 1880er Jahren, der hieß der Hermetischen Bruderschaft von Luxor. Das Wesentliche dabei ist, daß solche Esoteriker, ob in den oberen Rängen der Gesellschaft wie der Herzog von Sussex und Higgins oder von niedrigerem Status, wie Burgoyne, sich dieses Neros-Zyklus und des Auftretens großer Lehrer alle 600 Jahre seit mindestens 600 v. Chr. bewußt waren. Sie wußten, daß um 1800 eine oder mehrere große avatarähnliche Figuren auftauchen würden, um einen neuen kulturellen Impuls zu bringen. Wenn man über ein solches Wissen verfügt, kann man es je nach dem eigenen ethischen Standard nutzen, um solche Gestalten zu identifizieren und zu unterstützen oder sie zu blockieren oder sogar zu töten.

    Graf Ludwig Polzer-Hoditz, einer der engsten Schüler Rudolf Steiners hat im November 1916 geschrieben, daß „jene Kreise, die alles verheimlichen und auch heute noch versuchen zu verheimlichen, was im Zusammenhang mit dem Schicksal von Kaspar Hauser geschehen ist, jene Mitglieder der westlichen Logen und Jesuiten sind, die seit mehr als 150 Jahren, aber nachweislich seit Januar 1802 in ihren führenden Organisationen zusammenarbeiten“…. In Süddeutschland, so Polzer,  war „der geistige Boden gut vorbereitet worden durch all jene Persönlichkeiten, die wir als Goethe, Schiller, Hölderlin, Herder und andere kennen. Kaspar Hauser sollte gleichsam alles um sich versammeln, was in diesem so vorbereiteten geistigen Boden existierte. Aber das war von jenen Kreisen (den westlichen Logen und den Jesuiten) nicht gewollt. Sie konnten ein zur Bewusstheit erwachendes Zentrum nicht dulden, wenn sie nicht auf ihre Macht und ihre Machtansprüche verzichten wollten. Ein Geist wie derjenige Goethes macht ihnen Angst. Die Herausforderung von Napoleon hat diesen Kreisen sich zu einem Bündnis für die angestrebte Weltherrschaft auf den Gebieten der Ideologie und des Handels zu bilden, gezwungen. Napoleon hatte ihre Bemühungen bereits vereitelt; er war es, der die beiden Strömungen im Grunde zu einer Vereinigung gezwungen hat. Die ideologischen und spirituellen Angelegenheiten wurden ausschließlich in die Hände der Jesuiten gelegt; die kommerziellen in die Hände der anglo-amerikanischen Logen des Westens.“  [zitiert aus Tradowsky, Kaspar Hauser oder das Ringen um den Geist]

    Es ist höchst bemerkenswert, daß sich die Freimaurer in Großbritannien während des heftigen und erbitterten Kampfes zwischen der Freimaurerei und dem Papsttum während des 19. Jahrhunderts 1755 in zwei rivalisierende Fraktionen gespalten hatten und auch die Gesellschaft Jesu 1773 vom Papsttum selbst verboten worden war, und dann, genau in der kurzen Zeit nach dem Sturz Napoleons und nach Kaspar Hausers Geburt, 1813-1816, wurden die Freimaurer in Großbritannien 1813 von zwei Söhnen des Königs wiedervereinigt. Das wurde von dem Herzog von Sussex und seinem Bruder, dem Herzog von Kent, durchgeführt; der Herzog von Kent  war der Vater der späteren Königin Victoria. Nach diese Wiedervereingung der englischen Freimaurer 1813, dann kam die Wiedereinsetzung der Gesellschaft Jesu vom Papst im Jahre 1816.

    Polzer-Hoditz schreibt daß was „durch Kaspar Hauser beabsichtigt war, wurde durch die Menschheit zu Fall gebracht. Auf diesen ‚geplanten‘ Trümmern hat das Schwarz-Weiß-Prinzip die Oberhand gewonnen.“ durch die Menschheit zu Fall gebracht   - das heißt durch die Pläne dieser beiden Gruppen, die Freimaurer und die Jesuiten. Heute hat sich die Lage zwar etwas geändert, aber nicht in ihren Grundzügen. Das Papsttum, das seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil Ende der 1950er Jahre zunehmend von der Freimaurerei unterwandert wurde, hat sich insbesondere unter Papst Franziskus den sogenannten globalistischen Werten des Westens, d.h. der führenden Freimaurerländer USA, Großbritannien und Frankreich, angeschlossen.  Inzwischen bilden Russland und China den anderen Pol des von Polzer-Hoditz erwähnten dualistischen Schwarz-Weiß-Prinzips. Das war nicht von Russland  gewollt. 2000 hat Putin  US Präsident Bill Clinton gefragt ob Russland  ein NATO Mitglied werden dürfen und Clinto hat gesagt „Nein, Sie [Russland] sind zu groß.“ Nach 2008 und besonders nach 2014 wurde vom Westen her zunehmend Russland nach Osten abgedrängt und zusammen mit China erzwungen.

    Heutzutage sprechen Russland und China von einer neuen Weltordnung der Multipolarität, die ihnen zufolge die behauptete unipolare Vorherrschaft des Westens ablöst. In Wirklichkeit aber vertreten die Führerschaften der beiden östlichen Giganten nichts Neues, sondern nur Formen des alten politischen Autoritarismus und der ideologischen Starrheit, die sich neue technologische Masken überziehen. Währenddessen von innen heraus verrottet allmählich das von den USA geführte Imperium des Westens und seiner Satelliten in Europa, das selbst keinerlei neue gesellschaftspolitische oder wirtschaftliche Ideen entwickelt hat. 1916 hat Polzer-Hoditz geschrieben daß die Pläne der beiden Gruppen, der Freimaurer und der Jesuiten, der beiden veralteten hierarchischen Organisationen,  „werden … zu immer tragischeren Katastrophen führen, weil keiner von ihnen der menschlichen Entwicklung Rechnung trägt.“ „Die Freimaurerei“ – heute heißt,  gleichfalls wie zu Kaspar Hausers Zeiten, Großbritannien und Amerika und in geringerem Maße Frankreich, während der jesuitische Impuls heute hat sich nochmal nach Osten „verlagert“ sozusagen, nicht nach Russland und Preussen wie im 18. Jahrhundert,  sondern diesmal nach Russland und China, selbstverständlich nicht die Jesuiten selbst als Priester, sondern der jesuitische Impuls in Gestalt von politisch-theologischen Obrigkeitsbürokraten – ein jesuitähnliche Impuls, unterstützt von einer ausgefeilten Technologie westlicher Ursprungs die zu Überwachungszwecken verwendet wird.

    Was einen wirklich neuen, einen echten von Mitteleuropa ausgehenden Impuls auf dem Kontinent angeht, so hat es seit den 1830er und 40er Jahren keinen solchen Impuls mehr gegeben. Rudolf Steiners Bewegung für einen dreigliedrigen sozialen Organismus war zwar ein solcher, aber die Bewegung hat nur vier Jahre, von 1919 bis 1922, gedauert. Ansonsten sind die einzigen „neuen“ umfassenden sozialen Impulse, die aus der Mitte Europas, aus Deutschland und Italien, ausgingen, der Kommunismus und der Faschismus gewesen. Und meines Erachtens, hatten beide nicht wirklich etwas mit den eigentlichen Geister ihrer Völker zu tun. Der in diesen beiden innewohnende Geist ist rein atavistisch – purer Kollektivismus und Autoritarismus. Leider ist dies das geschichtliche Szenario, mit dem wir uns seit der Ermordung von Kaspar Hauser, dem Sieg der Reaktion und dem Aufstieg der totalitären sozialen Formen nach 1848 auseinandersetzen müssen.

 

Zum Thema der Weltmacht

Zu diesem Hauptthema der Weltmacht gehört die Rivalität zwischen Frankreich und England.  Der Krieg zwischen England und Frankreich der 1815 in der Schlacht bei Waterloo beendet ist, erschien damals als nur der kürzlichste der vielen Kriege zwischen den Engländern und den Franzosen zu sein – obwohl er sich eigentlich als der letzte herausstellte. Die Rivalität und erbitterte Feindschaft zwischen den englischen und französischen Eliten, die ihre eigenen Völker wiederholt in diesen langen und zerstörerischen Kriegen hineinzogen, ist wie schon gesagt im Jahr 1066 mit der normannischen Eroberung Englands begonnen. Sie setzte sich mit den hartnäckigen Bemühungen der anglonormannischen Elite um die Eroberung Frankreichs während des Mittelalters fort  - die können als ein langer Rachefeldzug seitens der anglonormannische  Elite für den Verlust der französischen Gebiete angesehen werden  - und nach dem Scheitern dieser Bemühungen hat das Ringen zwischen die beiden Eliten noch weitergegangen  mit dem bereits erwähnten diesmal erfolgreichen Streben der britischen Elite, die Vorherrschaft Frankreichs in Europa zu bekämpfen und die Stellung  Frankreichs in der Welt überhaupt im  18. und 19. Jahrhundert umzustürzen.

   Man kann sehen, wie der Kampf zwischen diesen beiden Kulturen, die keltische, germanische und einige wikinger Wurzeln haben, Teil der grossen, umfassenden, tiefgreifenden Bewegung der europäischen Geschichte bildete, die Bewegung oder die Welle die langsam vorgerückt hat vom südlichen Mittelmeerraum in der römischen Zeit allmählich nach Norden, nördlich der Alpen in den germanischen Raum vordringend, dann im Mittelalter nach Frankreich und die Niederlande und schließlich nach der britischen Insel. Anthroposophisch ausgedrückt hat dies mit dem Übergang im frühen 15. Jahrhundert von der Epoche der Verstandes- oder Gemütsseele zur Epoche der Bewusstseinsseele zu tun, die auch vom 4. zum 5. postatlantischen Zeitalter oder vom Widder- zum Fische-Zeitalter genannt werden.

    Wie gesagt, war Napoleon in Moskau, als ihm die Nachricht von Kaspars Geburt am 29. September 1812 überbracht wurde. Napoleon hoffte, durch seinen Einmarsch in Russland das Bündnis zwischen seinen beiden großen Weltrivalen Russland und England zu brechen. Napoleon wußte auch, daß die Grundlage von Englands wirtschaftlicher Macht in dem Handel mit Indien lag und daß er, wenn er Russland erobern könnte, die Briten in Indien besiegen und diejenige französische Stellung in Indien wiederherstellen könnte, die Frankreich im Siebenjährigen Krieg in den 1750er Jahren verloren hatte. Die Briten in Indien zu besiegen, war das Endziel seiner Expedition nach Ägypten im Jahr 1799 gewesen, die mit einem Fehlschlag beendet ist.

    Der Einmarsch seiner Grande Armee in Russland ist auch mit einem Fehlschlag beendet und 1815 wurde Napoleon von der englischen Regierung nach St. Helena geschickt. Für London und Wien schien das Ungeheuer endlich besiegt zu sein.  Doch im folgenden Jahr, 1816, tauchten Nachrichten auf, die – für diejenigen, die sie deuten konnten – indirekt darauf hindeuteten, daß Napoleons Adoptivenkel, der Sohn von Stéphanie von Baden, nicht, wie vorher angekündigt, kurz nach seiner Geburt gestorben war, sondern irgendwo in Gefangenschaft gehalten noch lebte, wahrscheinlich in Süddeutschland. Auch Napoleon  - nur 47 Jahre alt  – lebte noch, und daher darstellte er für seine Feinde in London, Wien und Paris potenziell eine grosse Gefahr. London und Wien wollte nur Ordnung, Stabilität, Ruhe in Europa. Überall war die alte Ordnung wiederhergestellt, die Aristokraten saßen wieder fest im Sattel. Deswegen lebte 1816 in einem „vergoldeten Käfig“ in Schönbrunn Palast in Wien unter den wachsamen Augen Prinz Metternichs gehalten -  – der fünfjähriger Napoléon François Joseph Charles Bonaparte,  Napoleons eigener Sohn, der ehemalige König von Rom und jetzt der sogenannte Herzog von Reichstadt  – wie Kaspar Hauser, auch einer Spross von zwei Kulturen. Für London, Wien und Paris war es äußerst wichtig, daß jeder, der in irgendeiner Weise mit Napoleon in Verbindung stand, daran gehindert wurde, den Weg zu einem europäischen Thron zu finden.

     Napoleon ist 1821 gestorben doch 1830 kam es zu einer wichtigen Entwicklung in Bezug auf diese Weltmachtwurzel zwischen Frankreich und England: Die so genannte Julirevolution ist in Paris ausgebrochen und stürzte Lord Stanhopes Freund, den ultrakonservativen französisichen König Karl X., der letzte König der Bourbondynastie, der dann nach England zum zweiten Mal in seines Lebens ins Exil fliehen musste. Aber danach hat kein Napoleonide den französischen Thron bestiegen; der neue König der Franzosen war Louis Philippe, der Sohn des ehemaligen Herzogs von Orléans. 1789 hatte der Herzog die Revolution gegen seinen eigenen Bruder Ludwig XVI. unterstützt. Der Herzog von Orléans war ein führender Freimaurer gewesen; ein guter Freund des englischen Establishments und hatte große Geldbeträge von den Briten erhalten.

    Die Briten waren sehr stark in die Vorbereitung der ersten französischen Revolution verwickelt, nicht zuletzt durch diesen revolutionären, anglophilen Herzog von Orléans.  Um etwas von diesem Hintergrund zu ergreifen, sollen wir Graf Stanhopes Stellung im Geflecht der britischen Weltpolitik und der Interessen des britischen Empires verstehen.

Der Lord Stanhope in der Geschichte Kaspar Hausers war der vierte Graf Stanhope. Die Politik seines in Schweizer Genf aufgewachsenen Vater, dem dritten Graf, war radikal und sogar revolutionär. Der dritte Graf Stanhope Charles war ein Mensch der rationalistischen Aufklärung, ein Fan von Voltaire, Rousseau und dem revolutionären Frankreich überhaupt und wurde von vielen in England als exzentrischer Radikaler und sogar als Volksverräter angesehen. Mit Deutschland hatte er wenig zu tun. Sein Sohn Philip Henry, der 4. Graf Stanhope, war dagegen stark von seinen Erfahrungen im deutschsprachigen Raum in der Zeit von 1801 bis 1835 geprägt und stand sozusagen mit beiden Beinen in der Welten der Aufklärung und der Romantik. Obwohl er einige französische Freunde und Bekannte hatte, lehnte er Frankreich als Staat entschieden ab und sprach sich sogar einmal für dessen vollständige Auflösung aus. Im Gegensatz zu seinem Vater, und vielleicht als Reaktion auf dessen strenge radikale Politik, betrachtete Philip Henry Stanhope sich selbst als ein „alter Tory aus der Schule von Mr. Pitt“. D.h. vom Premierminister William Pitt dem Jünger. Im britischen Parlament hatte dieser Stanhope wenig politisches Talent. Er war ein ebenso exzentrischer Ultrakonservativer wie sein Vater ein exzentrischer Ultraradikaler gewesen war; fast alle politische Anliegen unterstützt von Philp Henry sind gescheitert. Das Scheitern seiner politischen Karriere im Parlament war ein weiterer Grund, warum er sich für die Laufbahn eines politischen Agenten für die britische Regierung auf dem Kontinent entschieden hat. Der lange Streit mit seinem Vater hatte ihn seiner finanziellen Sicherheit beraubt. Seine wachsende Familie mußte er ernähren und außer den gesellschaftlichen Umgangsformen eines Aristokraten zusammen mit einer gewissen klugen Schlauigkeit in seiner Manipulation der Gefühle vieler Menschen und auch eine Begabung, sich Fremdsprachen anzueignen, hatte er keine Talente.

     Stanhopes Familie war durch Heirat eng mit der Familie des berühmten, im 1805 gestorben britischen Premierministers William Pitt dem Jüngeren verwandt. Stanhopes Urgroßmutter war die Tochter von Thomas Pitt, der das Vermögen der Familie Pitt in Indien durch den Erwerb eines riesigen Diamanten gemacht hatte. Stanhopes Halbschwester Hester, 17 Jahre jünger als Pitt und eine merkwürdigen Persönlichkeit an sich, viel tapferer als ihr Bruder, war mütterlicherseits die Nichte von William Pitt und hatte eine sehr enge, aber nicht sexuelle persönliche Beziehung zu dem Premierminister. Tatsächlich lebte sie bei ihm zwei Jahre vor Pitts Tod als  persönliche Sekretärin und Haushälterin. Durch ihre familiäre Verbindung zu den Pitts und ihre persönliche Beziehung zu William Pitt, dem Mann an der Spitze der britischen Regierung, konnte die kluge und wagemutige Hester 1801 heimlich die Flucht ihres Halbbruders Philip Henry vor dem tyrannischen Vater nach Deutschland arrangieren, wo Philip Henry in Erlangen* sein Studium fortsetzte und Deutsch lernte. Dies war ein weiterer Grund, warum Stanhope’s Vater William Pitt hasste: Er hatte sich in den Streit zwischen Vater und Sohn eingemischt.

[*Warum Süddeutschland und Erlangen? Das hat auch mit Pitt und mit Hester zu tun.  Francis Jackson war ein Freund von ihr und auch ein Diplomat in Pitts Dienst. Als junger Mann hat Jackson in Erlangen  studiert und dort ein gutes Verhältnis zur Markgräfin Sophie-Karoline von Ansbach-Beyreuth pflegte.]

     William Pitt der Jünger war ein politisches Genie, dessen persönliche Gaben diejenigen  seines Vaters William Pitt des Älteren, des ersten Graf von Chatham in den Schatten stellten. Pitt der Ältere hatte den britischen Staat im Siebenjährigen Krieg gegen Frankreich in den 1750er Jahren geführt. Tatsächlich waren beide Pitts Kriegsführer, aber im Vergleich mit sein sehr tüchtiger Sohn, der die imperiale Politik seines Vaters nur festigt und weiterführt hat, kann man den älteren Pitt mehr als den Architekt des britischen Empires betrachten. Der ältere Pitt war Mitglied einer politischen Fraktion, die als die Patriot Whigs bekannt war, auch Cobhams Cubs (Jungtiere?) genannt. Ein „cub“ ist ein junger Bär, und „Cobham“ hier bezieht sich auf Lord Cobham  – Richard Temple, den Anführer der Fraktion. Er war der Befehlshaber des älteren Pitt in der Armee gewesen und war auch eine Art Ersatzvater für ihn. Die Familien Pitt und Cobham waren auch durch Heirat miteinander verbunden wie auch die Pitts und die Stanhopes. Dieser Lord Cobham kann als der eigentliche Architekt des britischen Empire bezeichnet werden. Er verfolgte ganz bewusst die Politik, Frankreich als Weltmacht zu verdrängen – die Franzosen überall auf der Welt anzugreifen und zu besiegen und ihre Kolonien und Territorien zu erobern, so wie Rom systematisch versucht hatte, Karthago zu besiegen und zu verdrängen. Cobham verbreitete seine Ideen über seine Fraktion und vor allem über William Pitt den Älteren. Dieser Pitt der Ältere hat Cobham als seinen Mentor betrachtet.

    Man kann sagen, daß William Pitt der Jüngere das Empire gerettet und den Grundstein für den größten Sieg über den alten Feind Frankreich und dessen phänomenalen Führer Napoleon gelegt hat, aber es ist auch nicht übertrieben zu sagen, daß William Pitt der Ältere das Empire überhaupt erst geschaffen hat. Dies ist zweifellos der Grund dafür, daß Großbritanniens führende außenpolitische Denkfabrik Chatham House nach ihm benannt ist und in seinem ehemaligen Londoner Haus noch tagt (10 St. James Square).

William Pitt der Jüngere war zwar ein fortschrittlicherer und sozialliberalerer Politiker als sein Vater, aber auch ein Imperialist und ein Tory. Er fortsetzte die Weltpolitik und die Empire-Idee seines Vaters, und daher auch das Konzept Cobhams: nämlich, England muss das Gleichgewicht der Kräfte in Europa halten, nicht zuletzt um zu verhindern, daß eine europäische Macht in der Lage ist, auf dem Land- oder Seeweg, Englands Kontrolle über Indien zu bedrohen. Auf diese Weise soll England weiterhin die Welt beherrschen. So wie Pitt der Ältere den Sieg Großbritanniens über das königliche Frankreich im Siebenjährigen Krieg, in Nordamerika und Indien anführte, so führte sein Sohn Pitt der Jüngere den Kampf Großbritanniens gegen das revolutionäre und dann napoleonische Frankreich. Wie gesagt, als großer Bewunderer des revolutionären Frankreichs, Stanhopes Vater Charles hasste Pitt; im Gegenteil, aus Verbitterung über seinen Vater und aus Abscheu vor dem revolutionären Frankreich, kannte sein Sohn Philip Henrys Bewunderung für Pitt keine Grenzen.

    Nach dem Sturz Napoleons 1815, als Frankreich aus Sicht der britischen Elite sozusagen unter Kontrolle gebracht worden war, können wir beobachten, wie sich die Interessen der konservativen konterrevolutionären britischen und französischen Eliten in den folgenden Jahrzehnten immer mehr deckten, bis zu dem Punkt – 33 Jahre nach dem Tode Napoleons – an dem Großbritannien und Frankreich 1854 im Krimkrieg eine gemeinsame amphibische Invasion auf der Krim-Halbinsel durchgeführt haben. Dann in den 1860ern auch gemeinsam Invasionen in China und in Mexiko durchgeführt haben. Die alte Spannungen zwischen den beiden Mächten blieben jedoch bestehen und führten 1898 in der Faschoda-Krise in Ostafrika fast zu einem Krieg zwischen den beiden. Dennoch kam es dann 1904 zum Entente Cordiale-Abkommen und 1914 zum Zusammenschluss gegen Deutschland. Während des Ersten Weltkrieges kooperieren die beiden westlichen Alliierten unter anderem bei der Aufteilung des Nahen Ostens im Rahmen des berüchtigten Sykes-Picot-Plans und bei der Sabotage der Bemühungen der weißen Armeen, die Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg zu besiegen. Die Folgen dieser beiden Aktionen sind noch heute in Gaza und in der Ukraine zu spüren. 1939 zögerte Frankreich, ohne britische Führung, Massnahmen gegen Deutschland zu ergreifen.

    Im Juni 1940 haben Teile der britischen Elite mit Unterstützung Churchills sogar vorgeschlagen, die beiden Länder zu fusionieren, um Deutschland besser bekämpfen zu können, aber es war zu spät; die französische Streitkräfte sind zusammengebrochen. 1947 setzten die Amerikaner Frankreich unter Druck, dem UNO-Teilungsplan für Palästina und der Gründung des Staates Israel zuzustimmen. Das anschließende französische Votum für den UNO-Plan war entscheidend. Auch wenn ihre Rivalität im Nahen Osten anhielt, haben die Franzosen und die Anglophonen den Staat Israel seither grundsätzlich unterstützt. Heute sehen wir, im Nahost und in der Ukraine wie Macrons Regierung immer noch versucht, ihr Gesicht zu wahren, indem sie allerlei möglichen französischen außenpolitischen Initiativen vorschlägt, aber letztendlich hat sich Macron auf die Seite der USA und der NATO geschlagen. Macron und andere französische Staatsoberhäupter vor ihm und die französische Elite im Allgemeinen haben versucht, die Verherrlichung Frankreichs stellvertretend durch den französischen Einfluß in der EU fortzusetzen. Mittlerweile, haben die Briten für den Austritt aus der EU entschieden haben. Letztlich aber haben sich aber sowohl Großbritannien als auch Frankreich den USA und den amerikanischen außenpolitischen Imperativen de facto unterworfen – so wie Bayern und Baden sich Napoleon unterworfen haben.

    Der Krieg Englands gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich, der mit dem Sieg bei Waterloo 1815 scheinbar seinen Höhepunkt erreicht hat, war nur ein Teil eines viel längeren Kampfes zwischen den beiden Völkern, ein Kampf der über 800 Jahre zurückreichte und im 18. Jahrhundert zu einem Kampf um die Weltmacht geworden war. Die britische Elite hatte beobachtet, wie das französische militärische und politische Genie immer wieder sehr talentierte Persönlichkeiten hervorgebracht hatte, die eine echte Herausforderung für die englischen Pläne und Ambitionen darstellten: Philipp der Schöne, Jeanne d’Arc, Franz I., die Kardinäle Richelieu und Mazarin, Ludwig XIV., Lafayette, Napoleon Bonaparte. Nach 1815 schien es immer möglich, daß Frankreich eine weitere solche Figur hervorbringen könnte. In diesem langen geschichtlichen Kampf, der sicherlich nicht bei Waterloo zu Ende kam, spielte Philip Henry der vierte Graf Stanhope, nicht zuletzt durch seine Familienverbindungen mit den Pitts, eine nicht unbedeutende Rolle für die alte hierarchische Ordnung Englands die noch einhundert Jahre existieren würde.

 

Nachwort  Ich komme jetzt Schluss.

Im Jahr 2012 gedachten alle, die sich für die Geschichte von Kaspar Hauser interessieren, seiner Geburt in Karlsruhe 200 Jahre zuvor. Im Jahr 2028 werden wir den zweihundertsten Jahrestag seines Erscheinens auf dem Unschlittplatz in Nürnberg begehen, dem Platz, der nach dem Kerzenwachs benannt wurde, das aus dem Schlachten von Unschuldigen stammt. Im Jahr 2033, 200 Jahre nach seinem Tod in Ansbach in der Nähe des Denkmals zum Ansbacher Dichter, Johann Peter Uz, der am Reichsgericht in Nürnberg tätig war, werden wir uns an Kaspars trauriges Ende fünf Jahre nach seinem bemerkenswerten Auftritt zu Pfingsten auf dem Unschlittplatz erinnern. Dieses Gebiet, das die geographischen Orten der 21 Jahren des Lebens  Kaspar Hausers – Karlsruhe – Beuggen – Pilsach – Nürnberg – Ansbach – umfasst, liegt im Herzen Europas.

    Im Jahr 2033 werden auch Christen auf der ganzen Welt der 2000 Jahre seit den zentralen Ereignissen gedenken, die das Christentum ausmachen: die Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Christi und dann das Pfingstereignis 10 Tage nach seiner Himmelfahrt. Diese Osterereignisse bildeten den Höhepunkt der dreijährigen öffentlichen Predigt-, Lehr- und Heilstätigkeit Christi, die mit seiner Taufe im Jordan im Jahr 30 begonnen hatte. Und im Jahr 2030, werden wir auch dieser drei Jahren die mit der Taufe begonnen haben, gedenken. Wir sehen auch, wie seit mindestens 10 Jahren nun, daß das Jahr 2030 und die Dekade der 2030er sehr stark im Fokus der Welteliten stehen. Wir sehen, wie sich die Krise erneut in der Region Israel/Palästina aufbaut, die in der Nähe des salzigen Toten Meeres liegt. Nördlich der Region befindet sich das horizontale Schwarze Meer und südlich davon das vertikale Rote Meer. Im Westen liegt das Mittelmeer (die Mitte der Erde). Das Gebiet liegt im Herzen dessen, was als „Weltinsel“, d.h. Eurasien und Afrika zusammen, bezeichnet wurde. Von den traditionell kollektivistischen Gesellschaften Ostasiens bis zum Hyperindividualismus in der USA im Westen liegt Israel/Palästina im Herzen von Zeit und Raum auf diesem Planeten, und die Ereignisse von vor 2000 Jahren bilden die Grundlage unserer globalen Chronologie.

    Die deutschsprachigen Länder liegen im Herzen Europas, und der Raum Nürnberg/Ansbach liegt im Herzstück dieser Länder. Im 19. Jahrhundert repräsentierten die Staaten Baden und Bayern die Polarität in Süddeutschland zwischen Liberalismus und Konservatismus. Nach 1848 bestimmte die österreichisch-preußische Nord-Süd-Rivalität einen Großteil der deutschen Angelegenheiten. Nach 1948 war Deutschland 42 Jahre lang in Ost und West geteilt: Westdeutschland, das von den individualistischen USA kontrolliert wurde die bis nach Kalifornien reichten, und Ostdeutschland, das vom kollektivistischen Russland kontrolliert wurde das bis nach Wladiwostok reichte. Israel im globalen Sinne und Deutschland im europäischen Sinne – beide sind Herzensgebiete, Kreuzungsgelände und haben als solche daher im Laufe der Zeit viel gelitten.

    In beiden Fällen, in Israel vor 2000 Jahren und in Deutschland vor 200 Jahren, wurde ein Unschuldiger von einer Gesellschaft verfolgt und getötet, die sich ihn nicht genug anerkannt hat, nicht genug um ihn gekümmert hat. Innerhalb von etwa 100 Jahren nach dem Ereignis in beiden Fällen wurde die betroffene Gesellschaft durch die damaligen Weltmacht zerstört. Die Verwüstung wurde jedoch nicht nur durch diese Weltmacht – römische Legionen und anglo-amerikanische Bomben – verursacht. Auf das, was der Schriftsteller Jakob Wassermann die Trägheit des Herzens nannte, folgte für diese beiden Gesellschaft die Konsequenzen dieser Trägheit, nämlich die Hinwendung zu Materialismus, Militarismus und einem nationalistichen Fanatismus. Die Juden wandten sich den nationalistischen Zeloten zu und griffen zweimal – 66 n. Chr. und 132 n. Chr. – zu Gewalt und Krieg, um die Römer zu vertreiben und ein geeintes Königreich wiederherzustellen. Nachdem die Juden mehr als 100 Jahre vor Christus die griechische Dynastie der Seleukiden durch Krieg besiegt hatten, glaubten zu viele Juden, sie könnten die Römer auf die gleiche Weise besiegen. Im Krieg von 66-73 gegen Nero und Vespasian jedoch haben die Juden auf katastrophale Weise versagt. Der Tempel in Jerusalem, der fast 1000 Jahre lang das Zentrum und der Mittelpunkt ihrer Religion war, lag in Ruinen.

    Aus dieser Katastrophe haben die Juden damals wenig gelernt und deswegen haben sie etwa 60 Jahre später erneut gegen die Römer in den Krieg von 132-136 erhoben. Dieser Krieg hat zu noch größeren Verwüstungen geführt. Danach, wurden den Juden sogar verboten, Jerusalem zu betreten. Die Stadt wurde  nach der Familie des römischen Kaisers umbenannt. Über ein Million von Menschen sind in diesen beiden Kriegen des nationalistischen Fanatismus gestorben.

     In den 1840er bis 1940er Jahren war in Deutschland das gleiche Muster zu beobachten. Mit Blick auf den Westen, auf die französischen Modelle des einheitlichen Staatsnationalismus und des Militarismus und auf die britischen Modelle des Kommerzes, der Industriemacht, des Kolonialismus und des Flottenwesens versuchten die Deutschen, ein geeintes Reich um das Bild des Schwertes herum zu errichten, das vom gigantischen Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald hochgehalten wurde. Die Errichtung des Denkmals begann 1836, drei Jahre nach Kaspar Hausers Tod, und wurde 1875 abgeschlossen – im Jahr des Todes Georg Friedrich Daumers. Der Schöpfer des Denkmals war Ernst von Bandel, der hier in Ansbach im Jahr 1800 geboren wurde.

    Bandels Kindheit war von der französischen Besatzung und der Befreiungskriege sehr beeinflußt und seine Gesinnung wurde stark national-patriotisch. Zuerst wurde von Bandel durch die Wittelsbach-Könige Maximilian I. und Ludwig I. finanziert, aber er mochte die neoklassizistischen Vorlieben Ludwigs I. nicht und ist 1834 nach Berlin gezogen – ein symbolischer Schritt vielleicht. Ironischerweise richtete sich der ganze Geist des Hermannsdenkmals gegen den Westen, gegen Frankreich, doch das Zweite Reich, das Bismarck-Reich, war in vielerlei Hinsicht durch und durch westlich geprägt, anstatt sich auf einen echten deutschen Kulturgeist zu besinnen. Die letzten drei Jahre von Kaspar Hausers Leben waren eine Zeit des nationalistischen Eifers in den deutschen Staaten, inspiriert nicht zuletzt von der Pariser Julirevolution von 1830.

    Der Nationalismus und Militarismus gipfelte im preußischen Sieg über Frankreich 1871 und in der Reichsgründung im Spiegelsaal des Palastes von Ludwig XIV. in Versailles. In Anton von Werners berühmtem Gemälde Ausruf des deutschen Reiches auch als  Die Proklamation des deutschen Kaiserreiches gekannt, sehen wir, daß der Mann, der neben Wilhelm I. von Preußen steht und der das „Hoch“ für ihn als den neuen deutschen Kaiser anführt, Großherzog Friedrich I. von Baden ist, der Sohn von Leopold und Sophie von Baden, und der Enkel von Reichsgräfin Luise von Hochberg mit dessen Ehrgeiz die ganze Geschichte angefangen hatte. Großherzog Friedrich war mit Luise von Preußen verheiratet.

   Und wir erinnern uns, daß es preußische Truppen waren, die 1848 die Revolution in Baden niedergeschlagen haben und Leopold und Sophie als Großherzog und Großherzogin wieder einsetzten. Wir erinnern uns auch, daß der Neffe von Großherzog Friedrich und der Enkel von Leopold und Sophie Prinz Max von Baden war. Prinz Max wurde der letzte deutsche Reichskanzler, der 1918 Deutschland auf der Grundlage der 14 Punkte von Präsident Woodrow Wilson kapitulieren gelassen hat. Rudolf Steiner war 1918 zweimal mit Prinz Max zusammengetroffen und hatte versucht, ihn davon zu überzeugen, den Krieg auf der Grundlage einer echten mitteleuropäischen Konzeption – des dreigliedrigen sozialen Organismus – zu beenden.  Stattdessen hat Prinz Max aber sich entschieden für die abstrakte Konzeption, die von der neuen Weltmacht des Westens gepredigt wurde, nämlich  die 14 Punkte.

    Fast genau 100 Jahre nach Kaspar Hausers Tod hat Adolf Hitler die Macht in Deutschland übernommen, und nur 12 Jahre später war die Verwüstung Deutschlands vergleichbar mit der Verwüstung von Judäa im Jahr 136, nach zwei schrecklichen Kriegen gegen die damalige Weltmacht.

    Das jüdische Volk, oder zumindest die jüdische Elite, hat in drei kurzen Jahren nicht erkannt, wer in Jesus Christus da anwesend war. Sie wendeten sich von ihm ab und schlugen stattdessen den Weg des Mars ein, gegen eben jene Macht, die damals im Wesentlichen die Kräfte des Mars und des Materialismus darstellte. 1800 Jahre später hat das deutsche Volk, oder zumindest die deutsche Elite, nicht erkannt, wer in jenen 5 kurzen Jahren in Kaspar Hauser da unter ihnen anwesend war; sie haben nicht auf die im Wesentlichen spirituellen Fragen geantwortet, die Kaspar Hauser auf jeden einzelnen Mensch stellt – Wer bin ich? Wer bist du? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Sie wendeten sich von Kaspar und von diesen Fragen ab oder zumindest haben sich zu wenige von ihnen mit solchen Fragen beschäftigt und stattdessen haben sie denjenigen Weg genommen, der sie letztendlich gegen eben diejenige weltliche Macht führte, die in der modernen Epoche im Wesentlichen die Kräfte des Mars und des Materialismus darstellt.

    Man kann diesen Kräften nicht mit denselben Mitteln entgegentreten, die sie selbst einsetzen. Verwandelt werden können sie nur durch Feuerbachs Geist der glühenden Wahrheitssuche, durch Daumers Geist der liebenden Imagination, durch Tuchers Geist der fürsorglichen Verantwortung und durch Kaspar Hausers Geist des offenherzigen Zuhörens und der Zufriedenheit. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Gerade in den Jahren 2028 bis 2033 werden die Menschen auf der ganzen Welt und nicht zuletzt die Menschen in Deutschland erneut Gelegenheiten gegeben, über diese Fragen nachzudenken.

     Können wir nicht spüren, daß Jesus Christus in einem globalen, makrokosmischen Sinn und Kaspar Hauser in einem mikrokosmischen Sinn, Opfer waren, die Schicksale umkehren können? Mit dem Christus war es das Schicksal unzähliger Einzelner, aber es war sicherlich auch das Schicksal der Welt und der Menschheit als Ganzes. Durch Kaspar Hauser sind es vielleicht auch die Schicksale einzelner Menschen, die durch seine Geschichte verändert werden, aber für mein Empfinden, und ich bin mir sicher, auch für das Empfinden einiger von Ihnen heute, war es auch das Schicksal eines Volkes, das in den 19. und 20. Jahrhunderten durch die Beseitigung Kaspar Hausers verändert wurde – und zwar nicht zum Besseren. Aber wenn sich genügend Menschen in diesem Land zu Kaspar Hauser zuwenden und entdecken würden, was sein Leben und sein Opfer tatsächlich bedeuteten und immer noch bedeuten, dann würden sie ihn nicht nur als ein trauriges Opfer sehen, sondern als Opfer für ein besseres Deutschland, ein besseres Europa, ein bessere moderne Mensch. Ein Mensch, der ständig auf der Suche nach dem ist, was er wirklich werden kann; ein Mensch, der immer im Werden begriffen ist und deshalb nie aufgibt.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Geduld.