Eine Feier zum 60.Geburtstag in Rom

 

Erste Veröffentlichung: Der Europäer Zeitschrift Jg.21-Nr.8 Juni 2017

Am 25. März 2017 feierte die EU ihren 60. Geburtstag: die Unterzeichnung des (ersten) Römischen Vertrags im Jahr 1957 durch Vertreter aus sechs Ländern. Diese wurden mit der Unterzeichnung zu Gründerstaaten der EWG, der Vorläuferin der heutigen EU. Im Ganzen handelte es sich um Phase II des “Europäischen Projektes”, dessen Anliegen darin bestand, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. Phase I hatte sieben Jahre zuvor in der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS 1950) bestanden. Die Unterzeichnungszeremonie fand im Palazzo dei Conservatori auf dem Kapitol-Hügel von Rom statt. Als Veranstaltungsort hatte man hier nicht nur den zentralen Punkt der einstigen römischen Republik und des römischen Imperiums gewählt, gelegen auf einem Hügel, auf dem im 6. Jahrhundert v. Chr. ein dem Jupiter Optimus Maximus Capitolinus geweihter Tempel errichtet worden war. Auch der Name des Ortes war wohlgewählt: Palazzo dei Conservatori. Im Mittelalter waren die Conservatori Gemeindebeamte, deren Aufgabe (die Bezeichnung verrät es) darin bestand, die Denkmäler des antiken Roms zu erhalten. Ein ausgesprochen passender Name also für den Ort der Unterzeichnung zweier Verträge, die darauf zielten, ein Gebilde auferstehen zu lassen, das Rudolf Steiner das “Gespenst des Romanismus”1 nannte – das ‘Römische Weltreich’ unserer Zeit, vergleichbar mit der Größe des einstigen Roms, einschließlich Regionen von Europa, die die Römer selbst nie besucht oder gar erobert hatten.

Interessanterweise bestand das Unterzeichnungsdokument des Römischen Vertrags von 1957 lediglich aus leeren Blättern, die zwischen Titel- und eine Signierungsseite eingelegt waren! Grund hierfür waren Pannen beim Druck. Der britische Historiker Tony Judt weist darauf hin, dass „man die Bedeutung des Vertrages von Rom nicht überschätzen dürfe. Der Vertrag enthielt größtenteils bloß Darlegungen guter Vorsätze für die Zukunft… Der Text formulierte über lange Abschnitte hinweg Rahmenbedingungen zur Institutionalisierung von Abläufen, die später einmal dazu dienen sollten, rechtliche Verfügungen um- und durchzusetzen. Die einzige bedeutsame Neuerung – nämlich die Schaffung eines Europäischen Gerichtshofs nach Art. 177, dem die verschiedenen nationalen Gerichtshöfe Fälle zur finalen Urteilsfindung vorlegen würden – erwies sich zwar in späteren Jahrzehnten als immens wichtig, blieb aber zur Zeit der Vertragsunterzeichnung wenig beachtet.“2 Auch in den folgenden Jahrzehnten wurden viele Vereinbarungen verabschiedet, die vor dem Auge der europäischen Öffentlichkeit wenig Beachtung fanden, die aber den Eurokraten dazu verhalfen, geduldig und beharrlich ihr System zu etablieren. So sagte Jean-Claude Juncker, damals luxemburgischer Premierminister (heute Präsident der Europäischen Kommission), am 3. Juli 2007: „Natürlich wird es zur Übertragung von Hoheitsgewalten kommen. Aber wäre es geschickt, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hierauf zu lenken?“ (Daily Telegraph, 3. Juli 2007)

Die Horatier und die Curiatier

Der Saal des Palazzo, in dem die Unterzeichnung stattfand – der Sala degli orazi e curiazi, benannt nach einer Sage, die bis in die frühen Tage Roms zurückreicht: nämlich dem Kampf zweier Geschlechter von Drillingsbrüdern, den römischen Horatiern und den albanischen Curiatiern – war derselbe Saal, in dem 47 Jahre später, am 29. Oktober 2004, ein zweiter Römischer Vertrag unterzeichnet wurde. Letzterer begründete eine „Verfassung für Europa“, die größtenteils vom französischen Präsidenten Giscard d’Estaing konzipiert worden war. Man kann darum sagen, dass die Zahlen 23 (zwei einander gegenüberstehende Drillinge) und 33 (drei Brüder und drei Brüder) mit dem Projekt der Europäischen Union in Verbindung stehen, da die Unterzeichnung der beiden Verträge von 1957 und 2004 im selben Saal stattgefunden hatte [im Jahr 2017 folgte noch ein dritter Vertrag]. Doch anstelle von Kooperation (33) zwischen den beiden Drillingen (man beachte: sechs Nationen unterzeichneten den Vertrag von Rom) gab es Kämpfe (23). Im antiken chinesischen Orakelsystem des I Ching, dessen Wurzeln, in die Zeit der Inkarnation Luzifers in China im späten 4. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen, ist jedem der 64 Hexagramme eine Zahl, ein Name und eine Bedeutung zugeordnet. Der Name des 23. Hexagramms lautet Po. Er bedeutet soviel wie ‚Splitterung, Spaltung, Zersetzung’. „Es gibt Zeiten, in denen Auflösung oder Loslassen die einzigen Wege zur Erneuerung sind. Po zeigt, wie Dinge stärker werden, indem Altes und Überwundenes ausgeschieden wird. Das Zurückschneiden eines Baumes lässt seine Äste üppiger wachsen. In einer Situation wie der jetzigen ist es nötig, alles zurückzulassen, was sich erschöpft hat und dir nicht länger dazu dient, auf einen erfüllenden Pfad zurückzufinden. Manchmal muss man Seiten des Lebens voneinander trennen, um ein Gleichgewicht herzustellen.“3

Signing Ceremony of the Treaty of Rome 1957

Der Vertrag von Versailles (1919), der so großen Schaden über Europa brachte, wurde im Spiegelsaal zu Versailles unterzeichnet. Errichtet wurde das Schloss von Ludwig XIV., einem Herrscher von höchster Eitelkeit, der sich selbst als die Verkörperung des Staates, als Sonne auf Erden sah – Le Roi Soleil, der Sonnenkönig. Von jeder Stelle im Spiegelsaal aus konnte Ludwig sich und seine Errungenschaften reflektiert sehen. Wir erkennen in Ludwig eine Gebärde in Richtung einer erzwungenen Eins-Heit. Eine solche Eins-Heit ist die Signatur Luzifers. Wir begegnen der Gebärde heutzutage in Form des erhobenen Zeigefingers bei Kämpfern des Islamischen Staats (I.S. oder I.S.I.S.), aus deren Sicht es keinen Widerstand gegen den Willen des einen Gottes, Allah, geben darf. Die ‚drei Römischen Verträge’ (1957, 2004, 2017) wurden demnach unter dem ‚Signum’ des Kampfes zwischen Horatiern und Curiatiern unterzeichnet – in einem Saal, der den Ursprüngen Roms gewidmet ist, welche in Aggression, Massenvergewaltigung („Raub der Sabinerinnen“) und kriegerischem Sieg des antiken Reichs über seine Rivalen liegen. Der Saal wird zugleich überblickt von den Figuren zweier korrupter Päpste aus 17. Jahrhundert. Sie regierten zu einer Zeit, als Religion und Politik den europäischen Kontinent zerrissen und ihn völlig zu zerstören drohten. Mitteleuropa brauchte viele Jahrzehnte, um sich von den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges zu erholen. Im Saal der Horatier und Curiatier sind wir also mit einer Geste von Zwei-Heit, von binärer Spaltung und Konflikt, konfrontiert. Eine solche Zweigliederung entspricht einer ahrimanischen Signatur. In der römischen Kultur, die beständig von Ahriman bedroht war, ihm jedoch laut Steiner (17.9.1916, GA 171) nie ganz verfiel, war die Zweigliederung stets vorhanden: innerhalb der Republik in Form von Spannungen zwischen Senat und Volk; im Weltreich als Spannung zwischen Kaiser und Senat, zwischen traditioneller römischer „Tugend“ und jenen neuen Genüssen, die die imperiale, kosmopolitische Ära mit sich brachte; zuletzt auch als Spannung zwischen Christen und Heiden. Die verschiedenen Spannungen zerrissen Rom letztlich. Es bildeten sich zwei Pole: Rom und Byzanz. Griechenland als stärker luziferische Kultur hatte seine Unabhängigkeit bereits an die Eroberungsmacht Mazedonien verloren. Rom schaffte es am Ende nicht, ein vermittelndes drittes Element zu finden, denn es war unfähig, ein wahrhaft christliches Element zu akzeptieren und zu integrieren. Die Unfähigkeit wurde von der Römisch-Katholischen Kirche weitergetragen, die im Jahr 869 (8 + 6 + 9 = 23) das europäische Verständnis der Entelechie des Menschen von einem dreiteiligen Wesen, bestehend aus Körper, Seele und Geist (Trichotomie), auf ein zweiteiliges Wesen, bestehend aus Körper und Seele (Dichotomie), reduzierte. Dies ereignete sich 69 Jahre (3 x 23) nach der Gründung des Reichs der Karolinger! Erweiternd hierzu liegt das Jahr des ersten Römischen Vertrages (1957) zeitlich gesehen 544 Jahre nach dem Beginn des Zeitalters der Bewusstseinsseele (1413); das Jahr 869 liegt 544 Jahre davor. Zwischen den beiden Jahren 1957 und 869 besteht also eine Verbindung. Diese beruht auf Rudolf Steiners Erläuterungen (17.2.1918, GA 174a) zur Wechselbeziehung zwischen zwei Jahren, die in Bezug auf ein drittes Jahr zwischen ihnen, in welchem sich ein bedeutendes historisches Ereignis abspielte, denselben Zeitabstand haben; zwei Jahre also, die ein historisch bedeutsames drittes Jahr als „Spiegelachse“ zwischen sich haben – in unserem Fall das Jahr 1413.

Die Verfassung von 2004

Das Verfassungsdokument von 2004 wurde von zwei seiner energischsten Befürworter als „die Geburtsurkunde der Vereinigten Staaten von Europa“ sowie als „der Schlussstein auf einem Europäischen Gesamtstaat“ bezeichnet4. Auf dem Foto der Unterzeichnungszeremonie von 2004 fällt auf, dass die meisten der schwarzen Doppelquadrate auf dem Saalboden von blau-gelben Teppichen verdeckt sind. Es bleibt lediglich eine einzelne Reihe von Doppelquadraten (12?) sichtbar, die auf das Banner mit dem Kreis von 12 Sternen vor dem Unterzeichnungspult zuführt. Als der Gesang von Enya, der ,gregorianischen‘ Sängerin unserer Tage (und angeblichen Lieblingspopmusikerin von Papst Johannes Paul II.), im Saal erklang, versammelten sich Regierungsvertreter sämtlicher unterzeichnenden Nationen paarweise, um unterhalb einer großen dunklen Bronzestatue (von Algardi) Platz zu nehmen. Die Statue zeigt Papst Innozenz X., der während der letzten Jahre (1644-1655) des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) regierte, mit zur Segnung ausgestreckter Hand. Kraft ihrer Unterschrift erklärten die Regierungsvertreter die Einwilligung ihrer Nationen in die Europäische Verfassung – ein Akt, der zugleich auch die letzten Spuren nationaler Unabhängigkeit dieser Nationen wegwischte. Oberhalb der Statue von Innozenz X. blickten die Unterzeichnenden auf ein Fresko von Cesare aus dem späten 16. Jahrhundert, „Die Auffindung der Wölfin“ (die die Zwillinge Romulus und Remus säugte). Am gegenüberliegenden Ende des Saales fiel ihr Blick auf eine Bernini-Statue aus weißem Marmor. Auch diese stellt einen Papst dar: Urban VIII., dessen von Geldgier, Weltlichkeit und Vetternwirtschaft geprägte Herrschaft (1623–1644) sich ebenfalls über lange Jahre des Dreißigjährigen Krieges erstreckte. Die Gründung der Sacra Congregatio de Propaganda Fide (Kongregation für die Verbreitung des Glaubens, 1622) geht zwar nicht auf ihn zurück, doch erhob er sie zu einer Institution mit aktiver Rolle in der Verbreitung des römisch-katholischen Glaubens in der Welt. Oberhalb der Statue von Urban VIII. befindet sich ein weiteres Fresko von Cesare, das eine Szene aus den frühen Tagen Roms zeigt: den Raub der Sabinerinnen(!).

Die Feier anlässlich des 60. Geburtstages: eine Absichtserklärung

Der dritte „Römische Vertrag“ wurde am 25. März dieses Jahres (2017) geschlossen, als sich die Führerschaft  der EU-Mitgliedsstaaten erneut in eben jenem Saal der Horatier und Curiatier im Konservatorenpalast zwischen den zwei Päpsten versammelte, um eine Absichtserklärung (bestehend aus vier Inhaltspunkten) über die Weiterführung der Einigung Europas zu unterzeichnen. Dieses Mal fiel der Anlass bescheidener aus als in den Jahren 1957 und 2004: keine Enya, keine opulenten Unterzeichnungsbücher. Den EU-Führer war vermutlich bewusst, dass sie sich – angesichts des Aufkommens potenter Anti-EU-Bewegungen in der gesamten Union seit Zurückweisung der Verfassung von 2004 durch die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande sowie seit Großbritanniens dramatischer beispielloser Entscheidung zum Ausstieg aus der EU vom 23. Juni 2016 – nicht die prahlerischen Posen von 1957 und 2004 leisten können. Interessanterweise enthielt das offizielle Logo des diesjährigen Anlasses 23 Elemente.(siehe unten)

Department for European Policies - Logo for the 60th anniversary ...

Doch trotz Brexit und wachsenden Anti-EU-Bewegungen in Kontinentaleuropa signalisierten die EU-Führer unbeirrt ihre deutliche Entschlossenheit auf die Schaffung eines Gesamtstaates hinzudrängen. Donald Tusk, der polnische EU-Ratspräsident, ließ folgende Worte im Konservatorenpalast verlauten (Übers. d. engl. Originals): „Europa wird als politische Größe entweder vereinigt sein – oder gar nicht sein [d.h. es würde nicht existieren]. Nur ein vereinigtes Europa kann gegenüber dem Rest der Welt ein souveränes Europa sein. Nur ein vereinigtes Europa garantiert Unabhängigkeit für seine Nationen, garantiert Freiheit für seine Bürger.“ – Hier zeigt sich, dass es aus Sicht der politischen Führerschaft keinen anderen Entwurf eines politischen Bündnisses gibt als jenen vom einheitlichen Gesamtstaat nach amerikanischem Vorbild. Auch zeigt sich, dass die politische Führer der Meinung sind, die Europäer würden in einer global-kompetitiven Welt wirtschaftlich nicht überleben können. Außerdem zeigt sich, dass ihnen das Verständnis dafür fehlt, dass Europas vermeintliche Hauptgegner in der Welt (USA, China, Japan, Indien) selbst bloß nach schlecht durchdachten europäischen Wirtschaftsvorstellungen handeln, wie beispielsweise der Idee, dass wirtschaftliche Aktivität in ihren Grundsätzen auf persönlicher Freiheit und Selbstbehauptung beruhe statt auf Brüderlichkeit, Kooperation und Service. Da sie so denken, halten sie an der Überzeugung fest, dass die europäischen „Horatier“ im 21. Jahrhundert nur überleben können, wenn sie sich umso fester in einer zunehmend größer werdenden „Union“ gegen die wirtschaftlichen „Curiatier“ verbünden. Europäer, so behaupten sie, können gegenüber dem Rest der Welt nur dann „unabhängig“ und „frei“ sein, wenn sie ihre Unabhängigkeit und Freiheit an einen immer größeren, immer stärker zentralisierten und vereinheitlichten Staat abtreten.

Wiederum fehlt hier das Konzept eines vermittelnden dritten Elements, der Gedanke an eine Dreigliederung von politischem, kulturellem und ökonomischem Leben. Wir Europäer müssen dieses Denken zuerst in unseren Köpfen tragen, d.h. wir müssen zuerst die verheerenden Folgen des Konzils von 869-70, nach dem die römisch-katholische Kirche des Westens der Kirche des orthodoxen Ostens ihren Willen aufzwang, erkennen und überwinden. Vorher werden wir nicht in der Lage sein, den Völkern des Ostens unserer Zeit den spirituellen und ideellen Geist eines neuen, trichotomen Verständnisses von Gesellschaft und Wirtschaft nahezubringen, der sich vom ökonomischen Wettstreit zwischen gegnerischen Wirtschaftsnationen und -regionen befreit und begriffen hat, dass Kooperation die Grundlage allen Wirtschaftens ist. Weil wir Europäer das „Gespenst des Romanismus“ und das Gespenst von 869 ‚konservieren’, wird es uns wie Parzival gehen, der spürt, dass er mit Feirefiz kämpfen muss: Es ist ein Kampf, den auch wir verlieren werden, da unser Schwert (unser soziales und ökonomisches Denken) bereits „zerbrochen“ ist.

Keine bloße Symbolik

Viele Befürworter der EU, allen voran solche aus Großbritannien, dem Land mit Respekt für die ‚harten Fakten’, werden behaupten, dass es sich bei den Ereignissen von 1957, 2004 und 2017 im Palazzo dei Conservatori um bloße Symbolik und Geschichte handle – um Ereignisse ohne echte Bedeutung im Vergleich zur ökonomischen und politischen Realität der EU oder der heutigen Welt. Aber schon dem ehemaligen französische Präsident Valery Giscard d’Estaing und anderen war klar, dass das Ziel der EU darin besteht, eine Idee zu verwirklichen, der schon mehrere Male zuvor in der langen Geschichte Europas nachgeeifert worden ist. In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen am 29. Mai 2003 sagte er: „Unser Kontinent hat eine Reihe von Versuchen seiner Einigung erlebt: unter anderem durch Caesar, Karl den Großen und Napoleon. Es war stets das Ziel, ihn [den Kontinent] durch Waffenkraft, durch das Schwert zu einigen. Wir hingegen sind bestrebt, ihn durch die Schreibfeder zu einen. Ob denn die Feder siegt, wo das Schwert versagt hat?

Durch die Feder statt durch das Schwert – die Worte klingen lobenswert. Doch ungeachtet der Mittel bleibt das Ziel dasselbe: einem Kontinent Einheit und Gleichförmigkeit aufzuzwingen, dessen Lebenskraft seit eh und je der lebendigen Vielfalt seiner Völker und Kulturen entspringt. Hier begegnen wir dem Impuls des „Gespenst des Romanismus“ (R. Steiner), das seit Jahrhunderten aus dem Unterbewussten den Willen so vieler europäischer Eliten lenkt. Patrioten in ganz Europa erkannten das, als sie sich Napoleons Absicht, einen von Frankreich dominierten Europäischen Staat zu schaffen, entgegenstellten. Rudolf Steiner erkannte das, als er sich gegen Woodrow Wilsons Versuch aussprach, Europa seine künstlichen Prinzipien nationaler Selbstbestimmung und Einheitsstaatlichkeit aufzudrücken, die die historische und kulturelle Diversität des Kontinents zutiefst verletzten. In seiner Rede davon, was geschehen wäre, hätte Johanna von Orléans mit ihrer Michaelischen Mission keinen Erfolg gehabt, sprach Steiner am 28.12.1910: „[O]hne das Wirken höherer übersinnlicher Mächte durch das Mädchen von Orleans hätte im 15. Jahrhundert Frankreich, ja ganz Europa tatsächlich eine andere Gestalt bekommen müssen. Denn damals ging alles, was sich abspielte in den Willensimpulsen, in den Gehirnen der physischen Köpfe dahin, Europa sozusagen zu überziehen durch alle Staaten hindurch mit einer die Völkerindividualitäten ausstreichenden und auslöschenden allgemeinen Staatsauffassung. Und unter deren Einfluss wäre ganz gewiss unendlich viel von dem unmöglich geworden, was sich in den letzten Jahrhunderten durch das Ineinanderspiel der europäischen Völkerindividualitäten innerhalb Europas herausgebildet hat.“ – Steiner lenkt unsere Aufmerksamkeit (19.1.1915 GA 157) von Johanna v. Orléans Geburt am 6. Januar 1412 um 2160 Jahre zurück auf die Zeit der Gründung Roms etwa 750 v. Chr.. Er spricht über die seherische Nymphe Egeria, die Anhängerin des Diana-Kultes war und die Numa Pompilius, dem Sabiner und sagenumwobenen zweiten König von Rom6, prophetische Inspiration verliehen haben soll. Johanna musste zu ihrer Zeit gegen luziferische Kräfte ankämpfen, die im frühen 15. Jh. vorherrschten. Heute, 600 Jahre nach Beginn des Zeitalters der Bewusstseinsseele und 250 Jahre nach der Industriellen Revolution, sind vorrangig ahrimanische Kräfte gegen uns gerichtet: Kräfte, die bestrebt sind, die gesamte Welt zu mechanisieren und dabei nicht bloß den menschlichen Geist (das Konzil von 869) und die menschliche Seele (die materialistische ‚Psychologie’ des 20. Jahrhunderts) abzuschaffen, sondern gar den menschlichen Körper selbst (Transhumanismus, Robotik und Künstliche Intelligenz im 21. Jh.).

Erzwungene Beschleunigung und das Verlangen nach „Atem“

Angesichts der baldigen Inkarnation Ahrimans hob Steiner hervor (4.11.1919, GA 193), dass die Propagierung von Nationalismus und Chauvinismus einer der Wege ist, über die Ahriman seine Inkarnation vorbereitet. Es mag einigen (selbst Menschen der anthroposophischen Bewegung) so vorkommen, als stehen „Nationalismus“ und „Globalisierung“ aktuell einander gegenüber, als kämpfe also Ahriman gegen den Michaelischen Impuls einer „kosmopolitischen Globalisierung“. Doch selten sind die Dinge in einer spirituellen Wissenschaft so einfach. Der Nationalismus zu Hochzeiten der nationalistischen Ära, welche sich am Ende des Gabriel-Zeitalters (1510-1879) und in den frühen Jahrzehnten des Michael-Zeitalters verorten lässt, ist nicht dasselbe Phänomen wie der heutige Nationalismus im zweiten Jahrhundert des Michael-Zeitalters. Der geschichtliche Kontext ist ein gänzlich anderer. Dem Nationalismus kommt heute nicht die steuernde Funktion innerhalb der Geschichte zu, die er in der Zeit von 1800-1914 innehatte. Nationalistische Stimmungen sind heute die Reaktion auf jene weltweit wirkenden ahrimanischen Kräfte, die durch Technologie und Wirtschaft operieren und die bestrebt sind, den stetig in seiner Kraft wachsenden, echten kosmopolitischen Michael-Impuls zu pervertieren. Sowohl Individuen als auch Nationen können schwere Fehler in ihrer Biografie begehen. Sie können auf falsche Wege und Einbahnstraßen geraten. Napoleons Versuch, den Geist des Romanismus wiederzuerwecken und – wie er behauptete – Frieden zu stiften, indem Europa mittels Eroberung als Ganzes geeint würde, war ein solcher, falscher Weg. Politisch gesehen standen Napoleon nationale und patriotische Kräfte von mehr oder weniger reaktionärer Art entgegen. Aus einer historischen Langzeitperspektive gesehen hat diesen Kräften die Zukunft nie gehört – und sie wird es auch künftig nicht. Aber in unserer heutigen Ära, in der der wahre soziale Impuls unserer Zeit – die soziale Dreigliederung – erst noch hervorbrechen muss, stehen dem ahrimanischen Zerrbild der Globalisierung mit all ihren erbarmungslosen Wirtschaftsfolgen einzig nationalistische Kräfte als effektive Gegner entgegen. Aus diesem Grund konnte der Vertrag von Rom 2017 nur bescheidener ausfallen als jener von 2004. Den Eurokraten ist bewusst, dass sie derzeit durch das Erstarken eines nationalistischen Populismus’ ins Hintertreffen geraten sind und dass sie sich mit mehr Bedacht bewegen und ihre Absichten und Mittel mit mehr Mäßigung vertreten müssen als noch 2004.

Neben Napoleon war auch der Bolschewismus von 1917 ein ‚kosmopolitisch’ falscher Weg. Lenins Versuch von 1920, Mitteleuropa für den Kommunismus zu erobern, wurde von den nationalistisch-katholischen Polen in der Schlacht von Warschau (16.8.1920) gestoppt. Die bolschewistischen Kommunisten wollten der Menschheit vorzeitig die Zukunft aufzwängen: ihre Karikatur einer ‚Bruderschaft der Menschen’. Heute sind es globale Kapitalisten mit ihrer fortwährenden Vernetzung an Konferenzen und Think Tanks, die danach streben, der Menschheit vorzeitig ihre oligarchische „Neue Weltordnung“ aus Handelsblöcken und Kontinentalunionen aufzuzwängen. Auch die Eurokraten tun dies seit 60 Jahren – zugegeben nicht durch militärisches Handeln, sondern durch offenes und verdecktes Agieren in Politik, Gesetzgebung und den Medien. Aber wie auch beim Kommunismus wird alles von „oben“ angetrieben, vom unbeirrbaren Drängen der EU-Eliten.

Es handelt sich nicht um eine Entwicklung, die dem Bewusstseinswandel von Millionen Individuen weltweit entspringt. Eine solche bräuchte Zeit für ihre Entstehung und Entfaltung. Der frühere französische Außenminister Hubert Védrine meinte zur Hetze in Richtung europäischer Einheit, Euro und Verfassung: „In jedem Stadium dieses Wahnsinns, von 1996 bis 2005, hätten vernünftigere Entscheidungen getroffen werden können, hätte ein gemächlicherer Rhythmus an den Tag gelegt werden können, der den Graben zwischen Eliten und Volk nicht noch tiefer gezogen hätte, sondern der stattdessen das wahre Europa mehr gefestigt und uns die aktuelle Krise erspart hätte. Doch indem ich das sage, unterschätze ich den religiösen Eifer, der dem europäischen Projekt zugrunde liegt. Für all jene, die an die zahlreichen Ideologien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geglaubt und zugleich ihr Scheitern überlebt haben, ist die Hetze in Richtung europäischer Integration zur Ersatzideologie geworden.“5 Weder der Nationalismus noch der vereinte Nationalstaat sind Wege der Zukunft. Aber unter den derzeitigen Gegebenheiten können Nationalismus und Patriotismus als Bremsen wirken, die das vozeitige luziferische und ahrimanische Treiben eindämmen. Eine solche Bremse und Eindämmung vermag einer Kultur und einem Volk Zeit zu verschaffen, um innezuhalten und zu prüfen, um abzuwägen, welches der geschichtlich geeignete Weg nach vorn sein soll. Künstler, Wissenschaftler und Philosophen, Frauen und Männer von Kultur brauchen keine Großstaat-Struktur nach dem Vorbild eines Römischen Weltreiches, um ihre Kommunikation untereinander zu erleichtern. Ebenso wenig brauchen Wirtschaftsmenschen eine solche, um Handel zu betreiben. Nigel Farage und Marine Le Pen, Vladimir Putin und Donald Trump – keine/-r von ihnen kann der Bevölkerung wirklich zukunftsorientierte Lösungen bieten. Doch sie können den Menschen Raum zum Atmen verschaffen, indem sie das ahrimanische, wirtschaftlich und technologisch getriebene Voraneilen in seiner Beschleunigung bremsen – ein Voraneilen, das Anthroposophen nicht mit einem michaelischen Kosmopolitismus verwechseln sollten. Das Gesagte soll nicht suggerieren, dass die vier genannten Personen Diener Michaels seien! Im Rahmen unseres eigenen Lebens können wir alle die Bemühung anstellen, dem Zwang elektrotechnischer Kräfte zu widerstehen, die Ahrimans Fuß auf dem Gaspedal sind. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass sich die Menschheit erst im 600sten Jahr des Zeitalters der Bewusstseinsseele befindet, das im Jahr nach der Geburt Johanna von Orléans begonnen hat und noch bis ins Jahr 3573 andauert. Wir müssen uns für unsere Entwicklung Zeit nehmen und uns dabei nicht von elektrotechnischen Veränderungen oder vom unduldsamen Drängen eines medialen Jugendkultes unter Druck setzen lassen. In diesem 21. Jahrhundert des Michael-Zeitalters müssen wir allen Raum zum Atmen ausschöpfen, den wir bekommen können, denn die an uns gestellte Herausforderung besteht darin, sowohl das luziferische Prinzip der ‚Eins-Heit’ (Gleichförmigkeit) als auch die binäre ahrimanische Tendenz zu Spaltung und Fragmentierung des Lebens zu überwinden, um uns zugleich auf ein echtes christliches und michaelisches Verständnis der dreigegliederten Natur von Mensch und Gesellschaft einzulassen: das menschliche Wesen, das zwischen Himmel und Erde lebt. Aus dem Raum heraus, in dem wir zu Atem kommen, können wir den Funken des Dreigliederungsgedankens behutsam anfachen und zu einer Flamme werden lassen. Erinnern wir uns noch einmal an die Bedeutung des Hexagramms 23 (Po): „Wie im Herbst werden die Blätter abgeworfen, um die Wiedergeburt des Frühlings vorzubereiten. Wenn vertraute Landschaften wegsterben, kann das ängstigen. Doch ist dies der Weg, auf dem die Natur sich auf einen neuen Zyklus zubewegt. Die Zeit verlangt Geduld – so dass Leere wieder zu Fülle werden kann. Eine Art Instandsetzung findet statt – vertraut dem Prozess! Die Zeit verlangt großen Mut, während ihr in der Situation ausharrt – ohne zu handeln, bis der Weg klar wird.7

Fußnoten

1.z.B. 29.11.1918, GA 186.

2.https://en.wikipedia.org/wiki/Treaty_of_Rome#Signature_of_the_Treaty_of_Rome

3.Frei übersetzt nach: http://cafeausoul.com/iching/po-split-apart

4.Hans Martin Bury, in: Die Welt, 25.2.2005, und Guy Verhofstadt, damals Belgischer Premierminister, Financial Times, 21.6.2004.

5.Irish Times, 8. August 2005; Hervorhebungen – TB.

6.Ihm wird nachgesagt, er habe das Kollegium und den Kult der Vestalischen Priesterinnen in Rom eingeführt, eine aus Alba Longa stammende Tradition. Die Szene ist auf einem Fresko an der Wand gegenüber jener mit der Kmpfszene zwischen Horatiern und Curiatiern dargestellt.

7.Siehe Nr. 3 oben.