Warum der Engländer Lord Stanhope?

 

Vortrag bei der Kaspar Hauser Festspiele, Ansbach, Deutschland, 4.8.2018

 

 

Ich möchte Eckart Böhmer danken, mir die Gelegenheit zu geben, nochmals hier bei den Kaspar Hauser Festspielen zu diesem Thema zu sprechen, das nicht nur für unser Verständnis der Vergangenheit so wichtig ist, sondern auch für die Zukunft Europas.„Warum der Engländer Stanhope?“ Diese Frage kann auf zweierlei Art beantwortet werden. Die eine eher konventionell, die andere tiefer, aber auch spekulativer. Ich möchte zunächst kurz von einem Gesamtbild der Umstände in Europa im frühen 19. Jahrhundert zum Mann Lord Stanhope übergehen: durch die Kriege von 1793-1815 hatte England das Zepter der Weltherrschaft von Frankreich endgültig übernommen. England versuchte stets das Entstehen eines europäischen Rivalen zu verhindern, der Englands Kontrolle über Indien möglicherweise in Frage stellen könnte. Indien hatte für England immer die größte Priorität. Frankreich und Russland waren in der Lage diese Kontrolle in Frage zu stellen. 100 Jahre später zeigte das vereinigte Deutsche Reich, daß es auch in einer solchen Lage war.

Seit über 100 Jahren hatte England gegen Frankreich um die Weltherrschaft gekämpft und 1815 besiegte England schließlich Frankreich. Danach, im Bestreben Frankreich unter Kontrolle zu halten, wurde der wichtigste kontinentale Verbündete der konservativen Regierung Englands in den 1810er Jahren Metternichs Österreich. Metternichs Sekretär und Hauptberater, Friedrich von Gentz, hatte eine lange und tiefe persönliche Verbindung zu England. Darüber hinaus waren Metternich und Gentz persönlich sehr verschuldet gegenüber den österreichischen Rothschilds, die eng mit Nathan Rothschild in England zusammenarbeiteten, der in den 1810er und 20er Jahren seine Finanzkraft in England stark ausbaute.

1815 beim Wiener Kongress waren die Interessen der konservativen Regierung in England mit denen von Metternich in Österreich (gegen Russland und Preußen) verbunden. England übertrug die Kontrolle über das Rheinland nach Preußen und hat 1815 die Herstellung des Königreichs der Vereinigten Niederlande unterstützt (und später, 1830, auch die des Königreichs Belgiens). Die Briten haben diese Politik entwickelt, um Frankreich zu säumen und “einzudämmen” (man vergleiche die Eindämmungspolitik gegen Sowjetrussland 1947). Im territorialen Streit zwischen Baden und Bayern um den Besitz der Pfalz, hat Metternich (zusammen mit England) Baden gegen Bayern unterstützt. Die Wittelsbacher (Bayern) waren historische regionale Rivalen der Habsburger (Österreich). Metternich und Castlereagh, der britische Außenminister, wollten nach der Niederlage Napoleons gar keine territorialen Veränderungen in Europa, keine Unruhe mehr. Metternich und sein Sekretär Friedrich von Gentz waren beide stark bei den Wiener Rothschilds verschuldet. Die Rothschilds hatten kommerzielle Verbindungen mit dem Bankhaus Haber (in Baden). Das habersche Bankhaus wurde später im Auftrag der Großherzogin Sophie von Baden Lord Stanhope als Geldgeber zur Verfügung gestellt, doch hinter Großherzogin Sophie und ihrem Ehemann, dem Großherzog, standen Wien und London.

England und Österreich wollten, als konservative aristokratische Mächte, verhindern, daß irgendjemand, der mit Napoleon in Verbindung stand, sich erneut einen europäischen Thron sichern könnte. Dies wäre eine Bedrohung durch das alte aristokratische Ancien Regime gewesen, und hätte sogar England gegenüber zu einem Wiederaufleben der französischen Herausforderung um die Herrschaft der Welt führen können. Für die konservativen Regierungen in England und in Österreich, geführt von Lord Liverpool und Lord Castlereagh und von Metternich und seinem Berater Friedrich von Gentz, war es eine unbedingte Notwendigkeit daß kein sogenannte ‚Napoleonide‘ wieder auf einem mitteleuropäischen Thron sitzen sollte.

Zweitens – und ich erwähne das nur als ein mögliches Szenario – hatte man in englischen Freimaurerkreisen okkulte Kenntnisse über die Möglichkeit, daß eine Individualität aufkommen würde, die in der Lage sein könnte, eine neue politische Anordnung in Europa, vielleicht in Mitteleuropa – z.B. as Großherzog von Baden – herbeizuführen. Godfrey Higgins war Amtsrichter und ein sehr gut informierter und gut vernetzter Freimaurer, der 20 Jahre lang an einer großen Enzyklopädie des Okkultismus und der Mythologie gearbeitet hatte, die er Anacalypsis [Enthüllung] nannte, dessen ersten Band er 1833, im Jahr seines Todes, veröffentlicht hat.

Das Buch war das größte Kompendium antiquarischen und okkulten Wissens, das jemals in englischer Sprache veröffentlicht wurde, und es wurde behauptet, daß das Buch eine wesentliche und einflussreiche Quelle für den Inhalt der Werke von HP Blavatsky war, z.B ihr Buch Isis entschleiert. Der Untertitel des Buches von Higgins heißt: Ein Versuch, den Schleier der saitischen Isis abzuziehen oder eine Untersuchung der Herkunft von Sprachen, Nationen und Religionen. Aus einigen Äußerungen Higgins’ wissen wir, daß er eng mit dem Großmeister der englischen Freimaurerei, verbunden gewesen sein muß. Dieser Großmeister (ab 1813 – bis 1843) war Prinz Augustus Frederick, der Herzog von Sussex, der sechste Sohn König Georgs III. und der einflussreichste und mächtigste Freimaurer in England in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Der Prinz, der sich sehr für Kabbala interessierte, hat 1817 die Logenbrüder der Frankfurter jüdischen Loge Zur aufgehende Morgenröthe ermächtigt, im englischen Logen-System ohne Einschränkungen ihre freimaurerische Arbeit ordentlich zu betreiben.

Ein Hauptmerkmal von Higgins’ Buch hatte mit Zyklen in der Geschichte zu tun und insbesondere mit einem Zyklus, dem NAROS-Zyklus. Ich habe keine Zeit, hier im Detail darauf einzugehen, außer, daß dieser Zyklus jeweils 600 Jahre dauert, und nach Higgins, jedes Mal, wenn dieser Zyklus neu beginnt, eine Art Avatarfigur erscheint, eine geistige oder kulturelle Führergestalt, dessen Einfluss in der kommenden Ära wichtig werden soll. Näheres zum NAROS-Zyklus finden Sie in meinem Buch über Kaspar Hauser. Nach Higgins’ Berechnungen begann um das Jahr 1800 ein neuer NAROS-Zyklus, der umgefähr bis zum Jahr 2400 dauern soll. Zeitgenössische Autoren des Okkultismus wie Higgins waren sich über diesen neuen Zyklus bewußt, der vor kurzem begonnen hatte und von einer großen kulturellen Figur geleitet werden sollte. Die Frage, die wir uns stellen können, lautet: War die Kaspar-Hauser-Individualität der Avatar dieses neuen NAROS-Zyklus? Sollte er der Adept unter den großen Geistern sein, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa tätig waren, und wurde der Ankunft dieser Individualität von denjenigen mit okkultem Wissen erwartet? Wurde seine Inkarnation vorhergesehen, und waren Pläne im voraus geplant, um es vorwegzunehmen und seine Mission zu durchkreuzen? Ich werde das nur als Frage vorbringen, ohne zu versuchen, sie zu beantworten oder zu behaupten, daß diese Erklärung stimmt. Ja sicher, man könnte andere Namen vorschlagen, wie z.B. Goethe, Hegel, Beethoven oder sogar Napoleon, als Kandidaten für den Avatar dieses neuen Zyklus von 600 Jahren, der im Jahre 1800 begann. Aber könnte es stattdessen auch Kaspar Hauser gewesen sein, und wurde deswegen seine Mission absichtlich blockiert?

In seinen Vorträgen während des Ersten Weltkriegs hat Rudolf Steiner mehrmals darauf hingewiesen, daß die Politik der herrschenden Gruppen in den westlichen Ländern, vor allem in Britannien, von okkulten Kenntnissen geprägt sei, d.h. Kenntnisse von Zyklen der Geschichte, von Kräften, die in der Geschichte wirken, und auch Kenntnisse von Kräften die in den ethnischen Zusammensetzungen der Völker wirken. Wir wissen, daß Godfrey Higgins einer der am besten informierten Freimaurer seiner Zeit war, und daß er mit dem Mann an der Spitze seines Ordens – dem Herzog von Sussex – in Verbindung stand. Der Herzog von Sussex und sein Bruder, der Herzog von Kent, der Vater der Königin Victoria, waren beide nicht nur begeisterte Freimaurer; sie waren auch eng mit den Menschen in der britischen Regierung verbunden und das zu einer Zeit, als fast alle Mitglieder britischer Kabinette auch Aristokraten waren.

Hier ist ein Buch mit dem Titel Builders of Empire – Baumeister des Empire – Die Freimaurerei und der Britische Imperialismus, 1717-1927. Die Autorin ist die amerikanische Historikerin Jessica L. Harland-Jacobs, und das Buch wird von der University of North Carolina Press veröffentlicht. In ihrem Buch beschreibt sie die intime Beziehung zwischen dem Wachstum des britischen Empire und der Freimaurerei über fast 200 Jahre und es wird auf Seite 5 erwähnt, wie z.B., in den 1810ern, also in dem Jahrzehnt, in dem Kaspar Hauser geboren wurde, gerade der Herzog von Sussex an der Einweihung mehrerer indischer Fürsten teilgenommen hat. Ich zitiere: “Solche Einweihungen haben gezeigt, wie nützlich die Bruderschaft sein könnte, um die Macht und den Einfluss des wachsenden britischen Reiches in Indien zu stärken.”

Aus der Perspektive weitsichtiger Mitglieder der britischen Herrschergruppen war es beispielsweise im Jahr 1815 nicht schwer zu erkennen, welche Kulturen in Europa rückläufig waren und welche auf dem Vormarsch waren, d.h. welche Kulturen gegen die britische Weltmacht in der Zukunft eine Herausforderung darstellen könnten. Aus dieser britischen Perspektive waren die aufsteigenden Völker in Europa die deutschsprechenden und die Russen. Russlands Rolle bei Napoleons Niederlage war nur allzu offensichtlich, und 1815 nach der Schlacht bei Waterloo, waren russische Besatzungstruppen in Paris zu sehen – eine bemerkenswerte Entwicklung, die zumindest einen starken Eindruck auf die britische Regierung und auf die britische Presse gemacht haben muß. Aber man braucht nur die Namen einiger der großen Persönlichkeiten zu erwähnen, die in den Jahrzehnten nach 1744 in Mitteleuropa geboren wurden, um zu erkennen, daß in der deutschsprachigen Region Europas eindeutig etwas sehr Bedeutsames geschah: Herder, Goethe, Mozart, Schiller, Fichte, Schlegel, Schleiermacher, Humboldt, Beethoven, Hegel, Hölderlin, Novalis, Tieck, Caspar David Friedrich, Schelling, Hoffmann, von Kleist, Brentano, von Arnim, Eichhorn, Schinkel, Grimm, Uhland, Schopenhauer, Schubert, Heine. Und das sind die Namen von kulturellen Figuren. Ich habe keine Militärs oder die in derselben Zeit geborenen Wissenschaftler und andere bedeutende Menschen erwähnt. Es war eigentlich ein wahres kulturelles Sonnensystem bedeutender Persönlichkeiten, die zu jener Zeit im deutschsprachigen Raum geboren wurden. Man kann sich daher die Frage stellen: Gibt es auch eine Sonne in diesem Sonnensystem?

Eine solche Frage könnte von denjenigen mit okkultem Wissen in den oberen Schichten der britischen Machtstruktur gestellt worden sein. Und aus einer Perspektive, die sich nur mit der Erhaltung und Ausweitung der britischen Macht in der Welt beschäftigte, hätten sie vielleicht gefragt: Wen in diesem mitteleuropäischen Raum müssen wir verfinstern? Und als sie dann durch ihren österreichischen Verbündeten erfahren haben, daß ein gewisser deutscher Prinz in einem relativ liberalen, an Frankreich grenzenden, deutschen Staat vor kurzem geboren worden war, ein Prinz der kurz nach der Geburt angeblich gestorben ist, der aber tatsächlich noch lebt und verschwunden sei, ein Prinz, dessen Mutter Napoleons Adoptivtochter Stephanie de Beauharnais sein soll und somit potentiell ein Fokus der napoleonischen Hoffnungen darstellte, und daß außerdem Napoleon selbst, der „große Satan“, die Ehe der Eltern dieses Prinzen arrangiert hatte, dann mußte das als Zielscheibe der Verfinsterung klar gewesen sein. Um diese Verfinsterung herbeizuführen, mußte die nächste Frage folgende gewesen sein: Wie und durch wen?

Hier möchte ich einen kleinen Umweg nehmen. Der britische Geheimdienst hat eine lange Geschichte, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht, in die Zeit von Königin Elisabeth der Ersten und die Entschlossenheit ihrer protestantischen Regierung, England nie wieder von einem katholischen Monarchen regiert zu lassen. Daran hatten die Aristokraten, die Elisabeths Regierung anführten, ein ganz persönliches Interesse. Nicht wenige von ihnen hatten während der Regierungszeit Heinrich des VIII, des Vaters der Königin Elisabeth, aus dem Verkauf katholischer Klöster und der Ländereien und Güter dieser Klöster, viel Nutzen gezogen. Gerade diese neue Handelsaristokratie hat sich in den folgenden Jahrhunderten für Englands neue koloniale Unternehmungen im Ausland interessiert. Entschlossen, ihre privilegierte Position zu schützen, die ihnen Reichtum, Macht und Einfluss gegen Englands imperiale Rivalen verschaffte, entwickelten gewisse Menschen innerhalb der englischen herrschenden Gruppen eine langfristige Einsicht in die Geschichte, die man mit der noch längerfristigen Sicht ihrer alten Gegner – dem Vatikan – vergleichen kann. Um 1820 war es den Leute der englischen herrschenden Klasse klar, daß sie die globalen Herausforderungen von Spanien, Portugal, den Niederlanden und jetzt auch Frankreich überstanden hatten. Nach 200 Jahren hatten sie gegen diese Feinde gesiegt und waren stolz auf ihren Triumph. John Bull, normalerweise in der Kleidung aus der Zeit des Lebens von Kaspar Hauser gekleidet, ist das Symbol des nationalistischen und materialistischen Engländers, selbstbewußt und stolz. Sein großer, rundlicher Bauch erinnert an Englands kommerzielle und militärische Macht, die damals um den ganzen Erdball ging. Die englischen herrschenden Gruppen jedoch – wegen ihrer eigentümlichen englischen Philosophie, die auf Angst vor dem Anderen, auf der Ausbeutung der Natur und auf dem Wert des Privateigentums beruhte, also weitgehend auf den Ideen der Denker Thomas Hobbes, Francis Bacon und John Locke aus dem 17. Jahrhundert basieren – diese Leute fühlten, daß sie immer auf der Hut sein mußten gegen die nächste aufstrebende Herausforderung einer fremden Nation oder eines Volkes, das Englands Reichtum und Macht wegnehmen könnte. Also suchten sie sich nach dem nächsten potenziellen europäischen Rivalen und Feind, und identifizierten diesen als Russland und, in geringerem Maße, auch Preußen.

Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß es der englische Außen-minister Lord Castlereagh gewesen ist, der, wie ich schon gesagt habe, die Strategie entwickelt hat, Frankreich einzugrenzen und einzudämmen. Beim Wiener Kongreß, hat er diese Strategie mit seinem Vorschlag, Rheinland-Westfalen an Preußen zu übertragen, verwirklicht. Wie der Herzog von Wellington in der Schlacht bei Waterloo deutsche Truppen aus verschiedenen deutschen Staaten eingesetzt hatte, und ebenso wie die britische Regierung deutsche Truppen – hauptsächlich aus Hessen –, um Englands Interessen in Nordamerika gegen die amerikanischen Rebellen zu verteidigen, eingesetzt hatte, wollte nun Castlereagh nochmal deutsche Truppen, diesmal aus Preußen, wenn nötig, einsetzen, um Englands Interessen gegen Frankreich zu verteidigen. Aber damit hat Castlereagh, sozusagen, Mitteleuropa mit einer „Zeitbombe“ versehen, weil der militärischen Macht Preußens die Kontrolle übergeben wurde über diejenige Region, die später zum Zentrum der industriellen Macht des vereinigten Deutschlands wurde. Und 63 Jahre nach dem Wiener Kongreß, auf dem Berliner Kongreß 1878, haben zwei Engländer, der Ministerpräsident Benjamin Disraeli und sein Außenminister Lord Salisbury, noch eine Zeitbombe angelegt, diesmal mit dem Vorschlag, daß Bosnien für die Dauer von 30 Jahren zur Verwaltung an Österreich-Ungarn übertragen werden sollte. Diese zweite Zeitbombe ist 1908 in der bosnischen Krise explodiert, die direkt zu Sarajevo 1914 führte. So haben wir 1815 in Wien, der Hauptstadt Österreichs, einen englischen Vorschlag zur Übertragung eines sehr bedeutenden Gebietes an Preußen, und 63 Jahre später in Berlin, der Hauptstadt Preußens, einen weiteren englischen Vorschlag zur Übertragung eines sehr bedeutenden Gebietes an Österreich. In der 63 Jahren zwischen diesen beiden Vorschlägen, ist das Schicksal Mitteleuropas entschieden worden.

Wir sollten auch bemerken, daß die Taktik, das Rheinland an Preußen zu übergeben, urspünglich nicht von Castlereagh stammte, sondern von seinem Mentor, dem ehemaligen Ministerpräsident William Pitt dem Jüngeren. Pitt und sein Freund, der begabte englische Diplomat Francis Jackson, waren eng mit der Flucht von Philip Henry Stanhope aus dem Haus seines tyrannischen Vaters – Charles, der 3. Graf Stanhope – befaßt.

Und das bringt mich zu meiner früheren Frage zurück: um eine neue kontinentale Herausforderung gegen England zu kontrollieren und zu unterdrücken, wie und durch wen sollte eine mögliche aufkommende leitende Figur aus den deutschsprachigen Ländern blockiert werden – eine Figur, die eine soziale Neugestaltung Mitteleuropas einleiten könnte? Dazu kommen andere Fragen: Warum gerade dieser Engländer – Philip Henry, der 4. Graf Stanhope? Welches waren die persönlichen Umstände, die ihn zu dem Schicksal des Erbprinzen von Baden hinführten? Inwiefern war er, Stanhope, auch ein “Kaspar” und in welchem Sinne ein “Hauser”?

Und noch weitere Fragen: Warum kehrte Lord Stanhope, nach seinen Aufenthalten in Deutschland 1816 und 1817, als Kaspar Hauser in Pilsach eingesperrt war, erst 1821 nach Deutschland zurück? Was führte ihn in diesem Jahr zurück nach Deutschland? Und jedes Jahr danach bis 1835? Schließlich, mit was hat Stanhope sich in den Jahren nach Kaspar Hausers Ermordung bis zu seinem eigenen Tod 1855 beschäftigt?

Bei der Beantwortung dieser Fragen sollten wir nicht vergessen, daß nicht Stanhope Kaspar Hauser 1812 entführt hat, noch war es Stanhope oder gar die britische Regierung, die Kaspar so lange inhaftiert hielt, und es war nicht Stanhope, der am Ende Kaspar tötete oder sogar arrangierte, daß er getötet werden soll. Das waren Deutsche, die diese Dinge taten – deutsche Herrscher und eine schwedische Prinzessin, die auch eine deutsche Großherzogin war. Aber die Rolle des Engländers Stanhope in der Tragödie um Kaspar Hauser war dennoch sehr bedeutsam. Letztlich war es erst Stanhopes Rolle die Kaspars Ermordung ermöglicht hat, weil Stanhope den Jungen von seinen deutschen Beschützern in Nürnberg entfernte und ihn in eine verletzliche Position brachte, hier in Ansbach, wo zwei Jahre später, die Mörderbande ihn töten konnte.

Stanhope erinnert uns an Judas’ Kuss, denn Stanhope verriet Kaspar durch seine Zuneigung, und schlimmer noch, er schaffte es, sich in Kaspars Herz zu stehlen, was Kaspar schließlich gegen diejenigen wandte, die sich wirklich um ihn kümmerten, so daß er selbst vor Gericht darum bat, von der Obhut der Stadt Nürnberg, der Vormundschaft des Barons von Tucher, in die Obhut dieses eigentümlichen Engländers übertragen zu werden. Stanhopes Rolle war dieser Verrat am Herzen, an der Seele – die Manipulation und Ausbeutung der Gefühle eines Unschuldigen und die Einimpfung in die Seele dieses Unschuldigen von Vorstellungen, Wünschen und Sehnsüchten niedrigerer Art. Stanhopes Ziel war es, das Kind Europas „englisch“ zu machen, um seinen Kopf mit den Träumen zu erfüllen, ein englischer Herr zu werden. Und damals war England das Zentrum der modernsten materialistischen Zivilisation. Aber natürlich nur für die Leute in den mittleren und oberen Schichten der Gesellschaft. Interessanterweise ist Lord Stanhopes Landsitz in Chevening in Sussex im Südosten England seit den 1970ern nicht nur die offizielle Residenz der britischen Außenminister geworden, sondern es ist auch der Standort der Chevening-Stipendien, wo junge, vielversprechende Menschen aus über 140 Entwicklungsländern nach England eingeladen werden. Dort und auch in britischen Universitäten studieren sie britische bzw. angloamerikanische Methoden und Denkweisen und kehren dann nach Hause zurück, um Mitglieder der Elite in den eigenen Ländern zu werden – und setzen vermutlich dort diese britischen Methoden fort, die sie in England bei den Chevening-Stipendien aufgenommen haben. Bei Wikipedia heißt es: „Das erklärte Ziel des Programms ist es, ein Netzwerk von Freunden des Vereinigten Königreichs aufzubauen, die in ihren Ländern zu künftigen Leitern werden.“ So hat das Schicksal, oder die britische Regierung, in unserer Zeit bewirkt, daß das, was Stanhope mit Kaspar Hauser vorhatte, jetzt mit jungen Leuten aus Entwicklungs-ländern weitergeht.

Die Erwähnung von Chevening, Stanhopes Familiensitz, wo er aufgewachsen ist, weist uns auf einen wichtigen Faktor in dem ganzen Prozeß hin, der letztlich Stanhope zu Kaspar Hauser führte. Die Stanhope-Familie hat mehrere Zweige und zieht ihre aristokratische Linie bis ins 13. Jahrhundert zurück. Aber im Jahr 1713 hatte der 1. Graf Stanhope die Tochter von Thomas Pitt geheiratet. Thomas Pitt war ein Händler der East India Company (Britische Ostindien-Kompanie). Er ist in Indien sehr reich geworden, nachdem er einen riesigen Diamanten erworben hatte. Diese Ehe war der Anfang der engen Verbindungen der Familien Pitt und Stanhope. Der 3. Graf, Philip Henrys Vater, der wie William Pitt der Ältere in die mächtige Familie Grenville eingeheiratet hatte, hatte in den 1780er Jahren die liberale Politik von William Pitt dem Jüngeren unterstützt, aber die beiden Männer wurden nachher politische Gegner – wegen ihrer unterschiedlichen Ansichten über die Französische Revolution. Wie sein Vater, interessierte sich Philip Henry sehr für die Naturwissenschaften, besonders für die neuen Studien der Elektrizität. Nebenbei darf erwähnt werden, daß Stanhope 1781 geboren ist, dem Jahr von Galvanis epochemachenden elektrischen Experimenten mit Froschschenkeln. Auf der anderen Seite aber hatte Stanhope auch etwas von der neuen romantischen Sensibilität in sich und er teilte auch die radikalen politischen Ansichten seines Vaters nicht. Stattdessen betrachtete er sich selbst als “einen alten Tory der Schule von Herrn William Pitt”- wie er über sich selbst einmal geäußert hat.

Stanhopes Vater, der 3. Graf, hatte ein schweres Schicksal: zwei seiner Söhne, also Philip Henrys Brüder, wurden Offiziere in der Armee und beide sind gefallen, einer in Spanien bei der Schlacht von A Coruña 1809 und einer durch Selbstmord. Der letzterer, James Hamilton, erhängte sich 1825 in einem Kuhstall. Aus Charles Stanhopes erster Ehe mit Lady Hester Pitt stammen drei Töchter. Charles Stanhope hat zwei seiner Töchter missbilligt, weil sie ohne seine Erlaubnis gehandelt haben. Deswegen hat er sich von beiden Töchtern für immer getrennt. Eine der Töchter ist gegen seinen Willen durchgebrannt, und William Pitt hat ihr und ihrem Ehemann geholfen. Früher hatte Pitt auch Philip Henry geholfen, weg vom Elternhaus nach Deutschland flüchten zu können. Im Jahre 1800, mit 19 Jahren, einem Alter, das für viele junge Leute den weiteren Verlauf ihres Lebens und Interesses bestimmt, hat Stanhope einen Brief an seine Schwester Hester geschrieben, in dem er seine Dankbarkeit für die Sorge und den Beistand seines Onkels in seiner schwierigen Situation ausgedrückt hat. In dem Brief verbindet der junge Mann seine eigenen Prinzipien mit den internationalen politischen Prioritäten seines Onkels. In dem Brief sehen wir eine Erklärung der Grundsätze, die ihn für mindestens die nächsten 30 Jahre lenken sollten. Der Brief gibt uns auch einen Hinweis auf die Beharrlichkeit, mit der er später elf Jahre lang versuchen würde, denjenigen Jungen ausfindig zu machen, von dem er vermutete, daß dieser Junge die Sache von Napoleon Bonaparte vielleicht fortsetzen könnte. Stanhope schreibt, daß er kaum beschrei-ben kann, „wie freundlich und großzügig der unwiderstehliche und redegewandte Herr Pitt (Pitt war ein großer Rhetoriker im Londoner Unterhaus – TB) ist, und ein so großes Interesse an meinem Wohlergehen und Glück zeigt. Ich hoffe durch mein Verhalten und meine Grundsätze, mich eines solchen Beschützers würdig zu erweisen; denn so lange ich lebe, solange ich existiere, solange ein Tropfen Blut durch meine Adern fließt und meinen rechten Arm belebt, so lange werde ich beständig und entschieden gegen die jakobinischen Prinzipien aufbegehren, die für uns der Ausgangspunkt dieses gerechtesten und notwendig-sten Krieges waren, Prinzipien, die Frankreich in den Zustand der Anarchie und Verwirrung gestürzt haben, die sich in Frankreich niederschlugen in Plünderung und Gewalt, der Unordnung und des Blutvergießens, beispiellos in der Geschichte der Welt, Prinzipien, wofür keine Worte stark und kräftig genug sind, um mein Entsetzen und meine Abscheu auszudrücken.” (Philip Henry Stanhope an seine Halbschwester, Lady Hester Stanhope. 4. April 1800. Dacres Adams MSS: BL Add Ms 89036/2/4: Letters between members of the Stanhope family, f. 92.)

Wir sehen also daß Philip Henry Stanhope, der 4. Graf Stanhope, nicht irgendein Aristokrat war, sondern einer, der einerseits, wie seine fünf Geschwister, eine sehr negative Beziehung zu seinem Vater hatte und andererseits, eine sehr positive und vorteilhafte Beziehung zu seinem Onkel – der zufällig der Premierminister und einer der hervorragendsten Menschen in der britischen Geschichte war. Damals war William Pitt berühmt, wie Churchill im 20. Jahrhundert, und als Patriot und Imperialist, versuchte er, wie Churchill, das Britische Empire zu retten, indem er diejenigen zu zerstören strebte, die er als die Gegner des Empire betrachtete. Es soll erwähnt werden, daß, obwohl William Pitt 1806 starb, er normalerweise als der Architekt von Englands letztendlichem Sieg über das revolutionäre Frankreich und über Napoleon betrachtet wird. Er war der Sohn von William Pitt dem Älteren, ebenfalls ein Premierminister, und der Mann der wohl der Chef-Architekt des britischen Empire als solches benannt werden kann! Vor seinem Tod 1806, lebte Pitt in London einige Zeit zusammen mit seiner Nichte, Stanhopes Halbschwester Hester. Ihr Bruder, Pitts Neffe, Philip Henry Stanhope, würde auch ein Diener im Dienst des Empire werden. Die Stanhopes und die Pitts waren schließlich nicht nur miteinander verflochtene Familien; sie waren Familien, deren Schicksale, im Dienst des Empire, sehr verbunden waren.

Stanhopes Vater, Charles, der 3. Graf, hat in Genf Mathematik studiert, und dort ist er rationaler Liberaler und ein eifriger Erfinder geworden: unter seinen Erfindungen waren die erste Eisenpresse und auch einige Rechenmaschinen. In Genf war er auch ein begeisterter Freimaurer geworden. Noch in der Mitte seines Lebens politisch radikal, unterstützte er, als Vorsitzender der sogenannten „Revolutionsgesellschaft“, die französische Revolution. Dennoch wurde er ein extrem starrer und hartherziger Vater, der seine Kinder, vor allem seinen ältesten Sohn und Erbe, Philip Henry, sehr streng behandelt hat. Sehr glücklich war er mit seiner ersten Ehefrau, Hester Pitt, die früh gestorben ist, die ihm aber drei Töchter geschenkt hat. Seine zweite Ehe mit Louisa Grenville, Tochter einer anderen sehr alten, berühmten Familie, war unglücklich. Das Ehepaar erwies sich als nicht kompatibel. Aus dieser zweiten Ehe kamen drei Söhne. Der 3. Graf war ein exzentrischer und rücksichtsloser, unbarmherziger und absolut kompromissloser Mensch, der doch mit allerlei Menschen zusammenarbeiten mußte um seine politischen und wissenschaftlichen Ziele zu verwirklichen. Damals nannte man ihn den englischen Don Quixote. Ich weise auf alles das hin, nicht um das Verhalten Philip Henrys im Falle von Kaspar Hauser zu entschuldigen, sondern einfach auf die Art des Hauses und der Familie, aus der Philip Henry Stanhope geboren wurde, anzudeuten, und ich tue das in dem Glauben, daß wir alle unsere Eltern nicht einfach als Ergebnis einer Lotterie haben. Wir sind alle “Hauser”, indem wir zu einem bestimmten Haus, zu einer Familie gehören. Wir sind von unserer Geburt an, in Schicksalsbeziehungen mit bestimmten anderen Menschen, verwickelt. Philip Henry Stanhope gehörte aber zu einem der ganz besonderen Häuser, oder Familien, die eine prominente Rolle in der Geschichte Englands gespielt hatten und danach spielen sollten.

So hart und gefühllos Philip Henrys Erziehung durch seinen Vater war, so streng und unerfreulich, und vielleicht sogar sexuell beleidigend, waren die Privatlehrer, die der Vater für seinen Sohn angestellt hat, daß der 19-jährige Philip Henry beschlossen hat, von seinem Vater wegzulaufen. Seine Stiefschwester Hester und ihr Onkel, William Pitt der Minister-präsident, auch Stanhopes Onkel, sowie Francis Jackson, der gemeinsame Freund der beiden, ein begabter Diplomat, haben dem 19-jährigen geholfen ins Ausland zu flüchten, wo er sein Studium fortsetzen konnte. Und wohin haben sie ihm empfohlen zu flüchten? Nach Deutschland, Erlangen, nicht weit von Ansbach! Warum gerade dorthin? Der Autor Johannes Mayer hat in seinem umfangreichen Buch über Lord Stanhope enthüllt, daß Francis Jackson selbst in seiner Jugendzeit in Erlangen studiert hat, und dort eine enge Verbindung mit der Markgräfin Sophie Karoline von Ansbach-Bayreuth einging. Die Empfehlungen der Markgräfin haben Jackson zum Erfolg in seiner diplomatischen Karriere verholfen. Meyer deutet an, wie Jackson schon 1801 den jungen Stanhope für eine Laufbahn als politischen Agenten vorbereitete, da der junge Mann durch keine besonderen Talente hervorstach, außer für fremde Sprachen, guten Umgangsformen und der Fähigkeit sich bei Menschen einzuschmeicheln. Keine Karriere in der Armee für ihn, wie seine Brüder, die Heeresoffiziere wurden. Also schon 1801 – Stanhope war nur 20 Jahre alt – sehen wir, daß bei der Entfaltung von Stanhopes Karriere zwei Menschen an sehr wichtigen Stellen in der britischen Regierung eine Schlüsselrolle gespielt haben. Die beiden hatten den jungen Stanhope auf Empfehlung von Francis Jackson, der zweimal als Diplomat in Berlin diente, nach Deutschland geschickt. Hester oder Pitt (wahrscheinlich letzterer)haben Francis Jackson gebeten, eine Karriere für den jungen Philip Henry zu gestalten. Die Karriere, die Francis Jackson für ihn geschaffen hat und die sein Bruder George Jackson, auch ein britischer Diplomat in Deutschland, nach Francis’ Tod 1814 weiter beeinflussen sollte, war der eines Regierungsagenten in auswärtigen Angelegenheiten – unter der Leitung der Jackson-Brüder.

Aubrey Newman, der einzige englischsprachige Biograph von Lord Stanhope, erwähnt in sein Buch über die Stanhope Familie (The Stanhopes of Chevening, 1969) weder die Tatsache, daß William Pitt und der Diplomat Francis Jackson dem 19-jährigen Philip Henry geholfen haben 1801 nach Deutschland zu flüchten, noch die Frage „warum gerade Deutschland?“ oder „warum gerade Erlangen?“ Im Buch von Aubrey Newman, einem akademischen Historiker und Spezialist für anglo-jüdische Geschichte und Holocaust-Studien, wird diese ganze Periode im Leben des jungen Stanhope gar nicht erwähnt – eine seltsame Unterlassung, wenn man bedenkt, daß dies die erste Erfahrung des jungen Mannes war, allein im Ausland zu leben. Dort hat er die deutsche Sprache gelernt, und sich bereits ein Netzwerk von Freunden und Bekannten aufgebaut. Das sollte ihm später sehr hilfreich sein.

Newman erwähnt den finanziellen Druck unter dem Stanhope seit seiner Hochzeit 1803 und der Gründung seiner jungen Familie stand, schreibt aber einfach als Grund dafür: „er glaubte ins Ausland gehen zu müssen.“ Über Stanhopes Reise nach Sizilien im Jahr 1812, als Spion am Königshof in Palermo, sein erster Posten als Agent im Auftrag Francis Jacksons, schreibt Newman nur, daß “er sich überhaupt nicht auf den Besuch gefreut hat.” (p.226) Auch schreibt Newman nichts darüber, warum Stanhopes Zielort gerade Sizilien wurde. Eigentlich erzählt Newman seinen Lesern überhaupt nichts über Stanhopes zwei Jahre in Sizilien. Auch erscheint es Newman wohl unwichtig, daß in Sizilien am 9. Juli 1812, also etwa 3 Monate vor Kaspars Geburt, Philip Henry einen merkwürdigen Schlaganfall – oder Sonnenstich wie Marcus Schneider annimmt – erleidet, den einzigen seines Lebens. Der Vorfall, in der Landschaft irgendwo südlich von Palermo, war aber so beängstigend, daß er tief erschüttert war, das alles erwähnt Newman auch nicht. Stanhope war damals 30 Jahre alt – ein anderer wichtiger Zeitpunkt seiner Biographie. Mayer fragt sich, ob dieser Zwischenfall wie ein umgekehrtes Damaskus-Erlebnis verstanden werden könnte – als ein Moment also, an dem Stanhopes Leben von einer anderen Macht ergriffen wurde. Ein solcher Gedanke kann natürlich nur Spekulation sein. Mayer wagt es hier, sich auf die Geschichte Siziliens und derjenigen des Schwarzmagiers Klingsor zu berufen. Die Figur von Klingsor haben einige Autoren mit der historischen Persönlichkeit Landulf der Zweite von Capua identifiziert. Landulf hatte sich gegen den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches aufgelehnt und ist unter die Sarazenen in Sizilien geflüchtet, wo er in der Stadt Calta Belota weilte. Tatsächlich hat Sizilien eine problematische Geschichte gehabt, wenn man an die arabische und die normannische Invasion denkt, an den bizarren Herrscher Friedrich den Zweiten, an die Carbonari und die Mafia – die Stadt Corleone befindet sich zufällig auf halbem Wege zwischen Palermo, wo Stanhope während seiner Zeit auf Sizilien wohnte, und Caltabelota, wo Landulf-Klingsor seine Magie ausgeübt haben soll. Das britische Empire war immerhin ein weltweites Empire, aber ist es jedenfalls interessant, daß Stanhope gerade an diesem Ort der Erde, Sizilien, seinen merkwürdigen einzigen Anfall erlitt.

Aubrey Newman äußert sich nicht über diese Reise nach Sizilien, noch fragt er warum von all den Ländern, die Stanhope bereiste, „Deutschland seine große Liebe“ war. Er hält fest, daß Stanhope sich „einflussreiche Freunde, einschließlich Metternich und Gentz“ machte, aber geht auf das „wie“ und „warum“ nicht weiter ein. Er schreibt, daß 1814, Stanhope „keine wirkliche Alternative gehabt habe, als ins Ausland zu reisen“, aber lässt seine Leser im Unklaren, wie Reisen ins Ausland, die meisten davon in Deutschland nach 1814, seine finanziellen Probleme lösen sollten. Er zitiert einen langen Absatz aus einem Bettelbrief an seinen Schwiegervater von 1815, der auch den Satz enthält: „Meine Abwesenheit von England ist allein um der Erziehung meiner Kinder willen notwendig….“, erwähnt aber einen anderen Brief nicht, den Stanhope an seine Schwiegermutter, Lady Carrington schrieb: „Es gibt viele wichtige Gründe, warum ich soviel Zeit im Ausland verbringen muß.“ Hier wird die Erziehung der Kinder nicht erwähnt. Nebenbei darf erwähnt werden, daß die Familie von Lord und Lady Carrington, deren Familienname damals noch Smith war, eine Bankiersfamilie war, die kurz vorher geadelt worden war. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden sie zu einer prominenten konservativen politischen Familie. In diesem Jahr, 2018, ist der 6. Lord (Peter) Carrington im Alter von 99 Jahren gestorben. Er war der erste Außenminister unter Margaret Thatcher und auch Generalsekretär der NATO für 4 Jahre in den 1980er Jahren. Er diente auch als Vorsitzender der Bilderberg-Gruppe für 8 Jahre in den 1990er Jahren und als Präsident der elitären anglo-amerikanischen Gruppe der Pilgrims Society (Pilger Gesellschaft) für 19 Jahre bis 2002. Er diente auch viele Jahre lang als der zweithöchste Geheimrat der Königin. Der höchste ist der Ehemann der Königin, der Herzog von Edinburgh. Lord Carringtons Vorfahren, der erste und zweite Lord Carrington, waren enge politische Verbündete von Lord Stanhope im Londoner Oberhaus im Ultrarechts-Flügel der Tory-Partei.

Aubrey Newman erklärt dem Leser auch nicht, wie die Familie von Philip Henry Stanhope es sich leisten konnte, 27 Monate lang, nämlich von November 1814 bis Mai 1816, in der sächsischen Hauptstadt Dresden zu verweilen, vor allem wenn man bedenkt, das Stanhope vor einem Komitee des Unterhauses bestätigt hatte, daß er „aus elterlichem Erbe keine Zahlungen oder Provisionen“ erhalte. Seit seiner Flucht aus dem Elternhaus 1801 hatte sein Vater sich geweigert, ihm überhaupt Geld zur Verfügung zu stellen.

Francis Jackson ist 1814 gestorben. Vor seinem Tod hatte er Stanhope empfohlen, sich mit Metternichs Sekretär, Friedrich von Gentz, in Wien in Verbindung zu setzen. Jackson und Gentz waren zunächst Rivalen um die Liebe der gleichen Frau gewesen, wurden dann aber seit Jacksons Dienst in Berlin 1804 gute Freunde. Jackson hat die Frau dann geheiratet. 1814 drehte sich die europäische diplomatische Welt um Friedrich von Gentz – er hatte den Wiener Kongress organisiert und war dessen Generalsekretär gewesen -, außerdem galt er als Metternichs rechte Hand. Gentz, ein Freund der Rothschilds, die damals das beste Kuriersystem in Europa zur Verfügung hatten, wußte den Wert aktueller Nachrichten des Geheimdienstes zu schätzen und brauchte jemanden vor Ort in Dresden, der Einsichten gewinnen konnte in die politischen Züge und Absichten in Preußen und in Sachsen.

Johannes Mayer schreibt: (p. 126): „Belegbar (hingegen) ist, daß Stanhope vom ersten bis zum letzten Tag seines Aufenthaltes in Dresden zweimal im Monat, pünktlich am 4. und am 20., jeweils 286 Reichstaler über das Dresdner Bankhaus W. H. Bassenge (& Co.) erhielt, und daß dieser Betrag erstmals am 29. April 1815 auf jeweils 446 Reichstaler, das heißt 893 Reichstaler im Monat, aufgestockt wurde. Bevor Stanhopes Familie England verlassen hatte, muß also eine Person oder Institution die pünktliche Finanzierung des Dresdner Aufenthaltes übernommen haben.“ Es war noch nicht möglich, herauszufinden, ob dieses Geld aus dem Budget des britischen Secret Service stammte, aber das ist wenigstens eine Möglichkeit.

Als Stanhope seinen Auftrag in Dresden erfüllt hatte, bemühte er sich, George Jackson zu bewegen, ihm einen Botschafterposten in Dresden oder Kassel zu vermitteln, aber irgendjemand hatte andere Absichten mit Stanhope. Er wurde nämlich nach Hause zurückbeordert – aber über Wien – und das ist nicht gerade der schnellste und direkteste Weg von Dresden nach England! Um die Entwicklung des Anglo-Österreichischen Verhältnisses zu verbessern, das in dieser post-napoleonischen Ära für Stabilität im Interesse der beiden Weltmächte zu pflegen war, wollte George Jackson wahrscheinlich auf Stanhopes hervorragendes Netzwerk nützlicher Kontakte nicht verzichten, das Stanhope in seinen 2 Jahren in Dresden eifrig aufgebaut hatte. Es ist natürlich auch möglich, daß jemand in der britischen Regierung oder im diplomatischen Dienst – etwa Jackson – von der Entführung und dem Verschwinden des Erbprinzen von Baden schon gewusst hat, und Stanhope absichtlich nach Wien geschickt hatte, um mit Gentz zu besprechen, wie man den badischen Prinzen ausfindig machen konnte. Aber direkte Beweise in diesem Sinne sind mir unbekannt.

Gentz, der Propagandameister, war seit 1800 ein „gekaufter Schreiberling“ und verläßlicher Unterstützer Englands. England galt seine ganze Bewunderung und so ist es logisch, daß sich das auswärtige Amt in London bemühen würde, das britisch-österreichische Verhältnis mit Hilfe seiner Person zu festigen. Zu diesem Zeitpunkt, 1816, während der Kerkerhaft Kaspar Hausers auf Schloss Beuggen, einem Besitztum der Reichsgräfin Hochberg, mag weder London noch Wien von der Entführung gewußt haben und man nahm möglicherweise an, daß der junge Spross der Familie Bonapartes – Kaspars Mutter war Napoleons Adoptivtochter – 1812 gestorben ist, denn soweit gab es keine Beweise, die dafür sprechen würden, daß die Gräfin Hochberg in irgendwelche Pläne verwickelt gewesen war, den jungen Prinzen von der Erbfolge auszuschließen, oder daß sie überhaupt irgendwie hinter dem angeblichen Tod des Erbprinzen 1812 dahintersteckte. Allerdings berichtete ein französisches Regierungsblatt, der Moniteur, am 5. November 1816, eine Flaschenpost sei aus dem Rhein gefischt worden, aus der hervorgehe, daß ein Thronanwärter in der Nähe heimlich festgehalten würde – das muß die Aufmerksamkeit von bestimmten Leute in Wien, London und Paris erregt haben. Dieser Junge mußte gefunden werden! Das würde eine breit angelegte Suche erfordern – aber wer wäre in der Lage so etwas zu unternehmen? Genau zu diesem Zeitpunkt – Herbst 1816 – war Stanhope zu Gast bei Gentz in Wien. Seit diesem Herbst hat Stanhope 24 weitere Reisen nach Deutschland unternommen, wobei, von Wien abgesehen, sein Interesse vor allem den süddeutschen Staaten, insbesondere den Höfen in München, Stuttgart und Karlsruhe galt, eine geographisch ganz bestimmte Region.

Das britische Auswärtige Amt muß auch dies für die beste Verwendung von Stanhopes Fähigkeiten betrachtet haben, besser als daß er für lange Zeit als Botschafter bei einem deutschen Hof dienen sollte, was mehr seinem Wunsche entsprach. Er mußte weiter als Agent arbeiten, der eigentlich von London nach Wien entsandt wurde. Er war sozusagen ausgeliehen. Von 1816 bis 1833, dem Jahr von Kaspar Hausers Tod, und auch später, war man nicht geneigt, Stanhope an einen anderen Ort zu versetzen. Stattdessen mußte er von 1816 bis 1834 fast jedes Jahr mehrere Monate lang nach Deutschland reisen. Er mußte das machen, obgleich er den Familienbesitz beim Tode seines Vaters übernommen hatte, aber wegen des Streits mit seinem Vater es ihm an Geld fehlte. Und für die Ausbildung seiner drei Kinder, für die Erhaltung seines großen Besitzes und für seinen aristokratischen Lebensstil mußte er sorgen. Außer seinem Sprachtalent und seinen gesellschaftlichen Fähigkeiten hatte er keine praktische Möglichkeit, welches zu verdienen. Er war kein Erfinder, wie sein Vater. Seine Söhne klagten immer während ihrer Studienzeit in den 1820er Jahren, daß ihr Vater ihnen nur sehr sparsame Beihilfe zur Verfügung gestellt hat. Bis zum Tode von Kaspar Hauser 1833 blieb Stanhope in einer unbequemen Finanzlage für einen Mann seiner Klasse und sozialen Status. Weiter wissen wir, daß er für seine Verdienste regelmäßig Gelder von der Großherzogin Sophie von Baden über ihren vermeintlichen Liebhaber, den Karlsruher Bankier Moritz von Haber, erhalten hat.

Wir sehen also, daß Stanhope erhebliche finanzielle Probleme hatte. In diesem Sinne könnte man sagen, daß Stanhope auch ein „Kaspar“ war, weil der Name Caspar vom alten persischen Wort für Schatzmeister stammt. Und Stanhope hatte keinen Schatz, kein Geld. Der Schatz, den Stanhope suchte, war eine ganz andere Art von Gold im Vergleich zu dem Schatz, den Kaspar Hauser in der Schatzkammer seines Herzens aufbewahrte. Auf deutsch kann das Wort „Kasper“ als Beleidigung benutzt werden, was Clown, Hanswurst oder Trottel bedeutet. Und Stanhope wurde von einigen seiner englischen Zeitgenossen im Parlament und in der politischen Presse wegen seines dandyhaften Aussehens und seine parfümierte Perücke als etwas wie ein Clown betrachtet, auch wegen seiner politischen Ansichten, an denen er sehr starr und unbiegsam festhielt.

Nach seinen Aufenthalten in Deutschland 1816 und 1817, als Kaspar Hauser in Schloß Pilsach eingesperrt war, kehrte Stanhope nach Deutschland erst 1821 zurück. Was führte ihn in diesem Jahr zurück nach Deutschland? Warum in diesem Jahr? Wir wissen es nicht genau, aber wahrscheinlich hatte der Grund etwas mit dem Tod Napoleons in diesem Jahr  zu tun. Auch Napoleon war gefangen gehalten worden – sechs Jahre einsames Exil auf der britischen Insel St. Helena, mitten im Atlantischen Ozean. Die konservativen Regierungen in London, Wien und Paris haben wohl vermutet, daß die noch zahlreichen Anhänger der napoleonischen Sache sich um den Hof von Napoleons Adoptivtochter, Stephanie de Beauharnais, der Mutter des verlorenen Prinzen, versammeln könnten. Das hatten Metternichs Spione schon beobachtet. Die paranoiden Kräfte in London und Wien hatten noch den Verdacht, daß dieser Prinz vielleicht irgendwo da draußen noch zu finden sei; er könnte ein gefährlicher Magnet für Radikale und Napoleonisten werden. Im Oktober 1821 fuhr Stanhopes Kutsche, von seinem treuen jungen deutschen Fahrer und persönlichen Diener, Anton Heinrich gefahren, noch einmal von Chevening aus nach Süddeutschland. Diesmal ging die Reise nach Mannheim, wo Stephanie, jetzt eine Witwe und ohne Macht im Badener Staat, Hof hielt. Mit seinen sozialen Fähigkeiten und durch seine alten Kontakten gelang es Stanhope, sich in Stephanies Kreis einzuschleichen. Diesmal versuchte er sich nicht direkt Stephanie zu nähern. Dafür würde eine andere Gelegenheit kommen. Jetzt wollte er sich nur ihrem Kreis bekanntmachen. Und danach würde er beim Mannheimer Hof ein gerngesehener Gast werden. Stanhope konnte dort einige sehr wichtige und nützliche Leute kennenlernen, unter anderem den sehr gut informierten Johann Philipp von Wessenberg. Ich zitiere aus dem Buch von Johannes Mayer: „Ein Leben lang im Dienste Österreichs tätig, war er ein naher Freund von Gentz und Metternich. Als Diplomat und Gesandter, unter anderem in Paris, London, Berlin, Kassel, Frankfurt, München, Mailand und Petersburg beglaubigt, stand er ehemals in persönlicher Verbindung mit Napoleon und Josephine, und war danach Berater und Teilnehmer am Wiener Kongreß. Später glänzte er als Vorsitzender der Militärkommission des Frankfurter Bundestags, der unter anderem den bayerisch-badischen Gebietsstreit zu schlichten hatte, der unter seiner maßgeblichen Mitwirkung in nahezu allen Punkten zugunsten Badens ausfiel, einschließlich der bis dahin offenen Sukzession der Linie Hochberg, die nunmehr beschlossene Sache war. Danach zog sich Wessenberg 1820 auf eigenen Wunsch und vorübergehend zur Erholung auf sein Schloß Feldkirch im Breisgau zurück, von dem aus er zu zahlreichen Besuchen nach Karlsruhe und Mannheim aufbrach.“ Also ein Mann, der gerade im Zentrum europäischer Ereignisse stand und der ein breites Netzwerk von Kontakten und Informationen hielt – ein wichtiger Fang für einen Agenten wie Stanhope. Wessenberg und Stanhope blieben für den Rest ihres Lebens gute Freunde und tauschten viele Briefe miteinander. Die beiden hatten zahlreiche gemeinsame Interessen, einschließlich okkulter Forschungen, wie wir aus ihren Briefen wissen. Auf der Rückreise nach England, in Herrnsheim bei Worms traf Stanhope – vielleicht durch Friedrich von Gentz – eine zentrale Figur in der badischen Geschichte und hat bei ihm vier Tage geweilt. Johannes Mayer sagt von diesem Mann, daß man ihn, „was den Kenntnisreichtum Zähringrisch-Hochbergscher Familiengeschichten und -tragödien betraf, den Kenner aller badischen Geheimnisse zu nennen gepflegt.“ Der Mann hieß Emmerich Joseph, Herzog von Dalberg. „Die am tiefsten mit der Frage verstrickte Reichsgräfin Hochberg war ihm ebenso gut bekannt wie Karl und Stephanie“ – das ehemalige Großherzogliche Paar und Eltern von Kaspar Hauser. Dalberg war „ein erklärter Gegner der Hochbergs, also auch des Großherzog Ludwig, was für Stanhope und seine Frage von grundsätzlicher Bedeutung sein mußte.“ Die Begegnung mit diesen beiden Männern – Wessenberg und Dalberg – war für Stanhope äußerst wichtig. Wessenberg war vertraut mit dem großen Bild der europäischen Affäre und mit den großen Spielern, zum Beispiel Gentz und Metternich, während Dalberg mehr über die Angelegenheiten des Mikrokosmos von Baden wußte als jeder andere. Dies ist vor allem wichtig für einen Agenten, Schlüsselpersonen zu finden, die die wichtigsten Informationsquellen sein konnten. Im Juni des nächsten Jahres (1822) ist Stanhope schon in Mannheim wieder erschienen, diesmal begleitet von seiner Gattin und Kindern. Im Juli wurde er endlich Großherzogin Stephanie vorgestellt.

Offenbar hat Stanhope nichts von Stephanie über den Verbleib ihres Sohnes erfahren, sondern von Mannheim aus ging er nach Baden-Baden, wo im September 1822 Stephanie auch in der Saison zu finden war. Johannes Mayer schreibt (p.209): „Weder davor noch danach waren zu gleicher Zeit an diesem Ort so viele am Schicksal Kaspar Hausers beteiligte Menschen versammelt.“ Unter anderem, um nur die Hauptfiguren zu nennen: Stephanie, Stanhope, Anselm von Feuerbach, der Badener Minister Berstett und Rüdt von Collenberg, der Bankier Haber, der französische Spion Joseph Garnier, der Pfarrer Enggesser und nicht zuletzt, Major Hennenhofer Die beiden letzten waren eng in die Entführungsfälle von 1812 verwickelt gewesen und Hennenhofer noch einmal, am Ende von Kaspars Leben. Er hat höchstwahrscheinlich im Auftrag der Großherzogin Sophie von Baden das Mordkomplott organisiert. Während der drei Jahre 1821, 1822, 1823 hat Stanhope sorgfältig und geduldig seine Annäherung an Stephanie geplant und ausgeführt, indem er zuerst ihren Kreis infiltrierte und dann eine anfängliche Audienz sicherstellte und hat sich dann ihr Vertrauen erworben. Nach seiner Reise nach Süddeutschland 1822 besuchte Stanhope Paris, wo er seinen alten Freund, den Grafen von Artois, und nochmal Dalberg wiedergetroffen hat. Da Napoleon erst ein Jahr zuvor gestorben war, muß es in französischen royalistischen Kreisen beträchtliche Besorgnisse über die Möglichkeit einer Wiedererweckung der Napoleonisten oder gar eines Staatsstreichs gegeben haben.

1824 wurde Stanhopes alter Freund, der Graf von Artois, der neue König von Frankreich, Karl X. Die beiden kannten einander seit 1805. Karl war ein Ultrakonservativer wie Stanhope selbst. In der Revolution von Juli 1830, dem Jahr, in dem Großherzog Ludwig von Baden starb, wurde Karl X. zum Abdanken gezwungen. Also in den 1820ern auch in Paris, ebenso wie in London und Wien, war die Sorge groß, den abwesenden Napoleonidenfürsten, Stephanies Sohn, zu finden und zu beseitigen. Und da Stanhope ein enger persönlicher Freund des neuen französischen Königs war, hatte er jetzt eine mehr persönliche Beteiligung an der Sache, als nur sein Geldbedürfnis.

In den 1820er Jahren suchte Stanhope weiter nach Kaspar Hauser, der die ganze Zeit in Pilsach bei Nürnberg gefangen gehalten wurde. 1825 wurde Stanhope schließlich dem Grafen Metternich, dem de-facto-Herrscher eines großen Teils Europas, vorgestellt, und in den späten 1820er Jahren entwickelte er seine Freundschaft und den Verkehr mit Friedrich von Gentz, mit dem er dann sehr eng verbunden war. Stanhope und Gentz waren jetzt gemeinsam besessen von dem Problem den abwesenden Prinzen zu finden. Inzwischen spitzte sich der Territorialstreit zwischen Großherzog Ludwig von Baden und König Ludwig I. von Bayern über den Pfälzer Besitzstand zu, als der ausschweifende Großherzog Ludwig sich seinem Ende näherte.

1828 war das Jahr, um das sich alles drehte. Im Januar veröffentlichte Johann Ludwig von Klüber ein Traktat, das den Badener Besitz an der Pfalz stark rechtlich begründete und auch das dauerhafte Erbrecht der Hochberger auf den badischen Thron bestätigte. Klüber, damals im Ruhestand, war der ehemalige badische Staatsrat, Geheimer Legationsrat und Berater des Hauses Hochberg. Er wurde als „der Geheimwissende aller badischen Angelegenheiten“ betrachtet. Natürlich hatte Stanhope Klüber bereits kennengelernt. Bis April war Klübers Traktat zum Verkauf in den Läden. Im folgenden Monat dann ist Kaspar Hauser auf dem Unschlittplatz in Nürnberg erschienen. Sehr wahrscheinlich wurde er von den Bayern freigelassen als Reaktion auf die Veröffentlichung dieses Traktats von dem Mann, „der alle badischen Geheimnisse kannte“. Doch Stanhope, der die ganze Zeit nach dem jungen Mann gesucht und jedes Jahr Monate in Süddeutschland verbracht hatte, kam dieses Jahr nicht nach Nürnberg oder gar nach Deutschland. Der Grund war der Tod seines Sohns George, der das ganze Jahr über an Schwindsucht litt und, in der Hoffnung auf eine Genesung, nach Brasilien geschickt worden war. Aber er ist, kurz nach sein Ankunft in Rio de Janeiro, im November gestorben. Der junge George Stanhope war zum Zeitpunkt seines Todes 21 Jahre alt.

Nach Kaspar Hausers Tod 1833, auch im Alter von 21 Jahren, reiste Stanhope dann bis zum eigenen Tod 1855 nur noch sieben Mal ins Ausland. Die Zielorte in Deutschland spielten dabei kaum eine Rolle. Während seiner 12 Monate dauernden Reise von 1844-45 etwa, verbrachte er nur 44 Tage in Deutschland, und zwar auf der Durchreise nach Österreich und Italien. Johannes Mayer stellt dazu allerdings fest, daß er keine Mühe scheute, um 2 Tage in Neumarkt, in der Nähe von Schloss Pilsach zu verweilen, wo Franz Richter, Kaspar Hausers Bewacher in den 12 Jahren im Kerker in Pilsach, immer noch lebte.

Von 1836 an und vor allem nach dem Tode seiner Frau 1843, stürzte sich Stanhope ganz in die politische Arbeit in England: Seine politischen Aktivitäten blieben jedoch fast alle ohne Erfolg. Außer vielleicht die Tatsache, daß sein Enkel Archibald Primrose, Lord Rosebery, Ministerpräsident, in der 1890ern einer der führenden Figuren des britischen Imperialismus, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert werden würde. Rosebery wurde der Mentor der Liberal-Imperialistischen Fraktion, die später in der liberalen Regierung von 1914 England in den Ersten Weltkrieg führten – Herbert Asquith, Edward Grey und Richard Haldane. Chevening war für Rosebery bei dem Opa, Philip Henry Stanhope, sein Lieblingsort als Kind, sagte er immer. Neben Stanhopes politischen Interessen müssen seine wissenschaftlichen Interessen z.B. für Flugmaschinen und exotische Pflanzen erwähnt werden. Er war der Präsident der Medizinisch-Botanischen Gesellschaft 1829-1837. Eine Gattung von besonders exotischen Süd- und Mittelamerikanischen Orchideen wurde nach ihm benannt – die Stanhopea.

Sein beständiges wissenschaftliches Interesse galt jedoch zweifellos seiner Begeisterung für den praktischen Okkultismus, der bis zu seinem Tod 1855 anhielt. Er gehörte zum Orphic Circle, einer Gruppe von okkulten Praktikern, eine in sich geschlossene Mitgliedschaft, die von den 1820er Jahren bis mindestens Mitte der 1850er Jahren vor allem in London ihre okkulten Forschungen betrieben haben. Der Name Orphic Circle (orphischer Zirkel) wurde später der Gruppe gegeben; die Mitglieder haben es nicht selbst benutzt. Der amerikanische Professor Jocelyn Godwin, schreibt in seinem Buch ‘Die theosophische Aufklärung’, vom Bestehen von drei Zirkeln okkultistischer Forscher in London der 1830er, 40er und 50er Jahre und daß Stanhope eine Hauptrolle als Forscher und Vermittler in und zwischen allen drei Zirkeln spielte. Er besaß eine der wenigen Bergkristallkugeln in England und hat alle bedeutenden und sich für okkultistische und mystische Dinge interessierten Leute in England gekannt und wurde ebenso von ihnen gekannt. Viele Jahre lang hat er über solche Themen mit seinem alten Freund Johann Philipp Wessenberg korrespondiert. Hellsichtigkeit, Mesmerismus, Okkultismus, Spiritualismus – das alles war Wasser auf seine Mühlen.

Stanhope stellte seriöse Forschungsfragen vor und empfahl neue Forschungsrichtungen. Er war offenbar um einen wissenschaftlichen Zugang zu dem ganzen Bereich bemüht – man könnte ihn einen seriösen Amateur nennen – und in solchen Dingen war er sicher kein Phantast oder Dilettant. Eine Hauptfrage bleibt allerdings noch zu beantworten, nämlich: Wie tief war er schon während Kaspar Hausers Leben in der Zeit von 1812-1833 in solche Dinge verwickelt? Wann genau hat er damit begonnen sich zu beschäftigen? Johannes Mayer vermutet, daß der eigenartige und einzige epileptische Anfall (Sonnenstich?), den er am 9. Juli 1812 auf Sizilien erlebte, möglicherweise, was Mayer einen Fall von „bewußt erlebter Besessenheit“ nennt, vielleicht wie ein Türöffner in Stanhopes Bewußtsein gewirkt hat, und er dadurch erst vorbereitet wurde für ein Interesse an okkulten Dingen. Ich konnte keine früheren Versuche bei Stanhope finden, solche okkulten Dinge zu erforschen. Sein Vater jedoch war schon ein Exzentriker, der sich für allerlei Wissenschaften interessiert. Die Stanhopes hatten eine Verbindung mit einer in der näheren Umgebung wohnenden Familie, im sozialen Rang eine niedriger eingestufte Familie, die Varleys. Die waren eine Familie von Erfindern, Malern, Astrologen. Stanhopes Vater, der 3. Graf, hatte Samuel Varley viel Geld für Experimente und Erfindungen gegeben, er hatte Samuels Bruder Richard Varley als Privatlehrer des jungen Philip Henry angestellt und viele Jahre später arbeiteten Philip Henry Stanhope und Richards Sohn, der Maler und Astrologe, John Varley, zusammen im Orphic Circle. John Varley, ein begeisterter Schüler des Dichters, Malers und Mystiker William Blake, war einer der hervorragendsten englischen Esoteriker und Okkultisten des frühen 19. Jahrhunderts.

Johannes Mayer hält fest, daß Stanhopes Einführung in die Freimaurerei durch Karl August Böttiger in Dresden stattgefunden hat, aber das mag ein bloßer taktischer Zug gewesen sein, um seine soziale Verbindungen in Deutschland zu stärken. Schließlich war er wohl nicht nur in so vielen Hauptströmungen okkulter Forschungen mehr oder weniger verwickelt, sondern war er auch jemand, der gerne Netzwerke aufbaute und unterhielt, die Menschen miteinander verband.

1850 hat das letzte Treffen von Stanhope und Stephanie de Beauharnais, Kaspars Mutter, stattgefunden. Sie war nach London gereist um Freunde zu besuchen und Ende Januar, bei Eis und Schnee, hat sie auch bei Stanhope in Chevening zwei Tage geweilt. Leider gibt es keine Aufzeichnung ihrer Gespräche. Stephanie hat ihm ein kleines Porträt von sich geschenkt, das er an der Wand in Chevening hängen ließ. Die beiden haben sich nie wieder getroffen. Fünf Jahre später am 2. März 1855 starb Stanhope selbst nach einer kurzen Krankheit im Alter von 72 Jahren. Er sorgte großzügig für seinen treuen Diener Anton Heinrich, der ihn seit 1816 auf so vielen Reisen nach Deutschland begleitet hatte. Heinrich sollte zwei Jahreslöhne sofort erhalten und eine jährliche Rente von £100 für 99 Jahre bezahlt werden. Aber stattdessen zog Anton Heinrich, 63 Jahre alt, offensichtlich vor, seinem Meister zu folgen. Er starb genau 3 Monate später.

Zwischen 1818 und 1830, also in der Zeit, in der Stanhope und Heinrich so oft durch Deutschland reisten und Stanhope Kaspar Hauser suchte, hatte er zu Hause in Chevening ein bemerkenswertes Heckenlabyrinth pflanzen lassen, das sein Großvater, der 2. Graf entworfen hatte. Das war das größte und das erste sehr komplexe Labyrinth überhaupt in England. Es gibt darin viele Abwege, aber keine Sackgassen. Es würde wahrscheinlich zu weit gehen, um zu behaupten, daß dieses Bestreben ein Labyrinth zu bauen etwas mit dem scheinbar endlosen Bemühen um Kaspar Hauser zu tun hatte – aber eine Möglichkeit ist es doch: die Bauzeit entspricht fast genau der Zeit von Stanhopes Versuch, Kaspar Hausers Aufenthaltsort zu finden. Man könnte jedoch sagen, daß dieses komplexe Labyrinth, das jetzt Teil des offiziellen Amtssitzes des britischen Außenministers ist, ein sehr geeignetes Symbol darstellt – ein Symbol nicht nur von der britischen Außenpolitik, sondern auch von der noch rätselhaften, aber allmählich klarer werdenden Gestalt von Philip Henry Stanhope.

Quellen:

Aubrey Newman, The Stanhopes of Chevening – A family biography (Macmillan, 1969)

Johannes Mayer, Lord Stanhope. Der Gegenspieler Kaspar Hausers (Urachhaus, 1988)

Jocelyn Godwin, The Theosophical Enlightenment (State University of New York Press, 1994)

Terry Boardman, Kaspar Hauser – Where Did He Come From? (Wynstones Press, 2006)