Helmuth von Moltke, der Krieg des Westens gegen Russland und das «neue römische Reich»


Erste Veröffentlichung (englisch) in: The Present Age  (Monatszeitung, Basel) Jg.2/Nr. 3 Juni 2016

In seinen Betrachtungen und Erinnerungen, die er im November 1914 in Homburg niederschrieb, machte Helmuth von Moltke klar, dass «die Niederwerfung Frankreichs im ersten Anlauf misslang, der schnellen Hilfeleistung Englands zu verdanken»(1) war. Der britische Außenminister Sir Edward Grey hielt die britischen Militärpläne und Absichten, Frankreich im Kriegsfall zu unterstützen,  sogar vor den eigenen Kabinettskollegen geheim, bis diese Geheimhaltung 1911 herauskam. Später, in Berlin, im Sommer 1915, beschreibt Moltke, dass während der kritischen Marneschlacht (September 1914) ein französischer Gegenangriff von Paris aus auf den rechten Flügel von Klucks 1. Armee, welche gegen den Osten von Paris vorrückte, «eine 25 km breite Lücke zwischen der 1. und 2. deutschen Armee» öffnete, «in welche drei englische Divisionen vorstießen, während die 2. deutsche Armee ihren rechten Flügel zurücknahm.»(2) Weiter schreibt Helmuth von Moltke, dass seine Entscheidung, zwei Korps des rechten Flügels abzuziehen und nach Ostpreußen zu verlegen, um Deutschland bei der russischen Invasion zu Hilfe zu kommen, «ein Fehler war, der sich an der Marne rächte».(3) Er schrieb weiter: «Die schwerwiegendste Entscheidung, vor die ich als Chef des Generalstabes gestellt war, war diejenige, ob Deutschland in dem zu erwartenden Zwei-Fronten-Kriege defensiv oder wenigstens nach einer Seite offensiv handeln solle. Ich habe mich nach eingehenden Prüfungen und Studium für das Letztere entschieden und den Aufmarsch so angelegt, dass die Offensive im Westen mit möglichst starken, die gleichzeitige Defensive im Osten mit einem Mindestmaß von Kräften geführt werden konnte. Es war zu erhoffen, dass im Westen eine schnelle Entscheidung herbeigeführt werden würde… sie war aber nur zu erwarten, wenn man die französische Armee im freien Felde treffen konnte.»(4)

Gen. Helmuth von Moltke (der der Jüngere)

(1848-1916)


So hofften Moltke und der deutsche Generalstab und vertrauten darauf, die französische Armee in einer entscheidenden Schlacht zu schlagen, wie es tatsächlich bei Sedan im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 geschehen war. Nach der Niederlage der Franzosen beabsichtigten sie dann, ihre Truppen nach Osten zu verlegen, um sich mit den Russen auseinanderzusetzen. Das war im Wesentlichen der sogenannte «Schlieffen-Plan», der von Moltkes Amtsvorgänger, dem Generalstabschef Graf Alfred von Schlieffen, vorgeschlagen wurde. Aber sowohl Schlieffen wie Moltke hatten die Beteiligung der kleinen britischen Armee unterschätzt und offensichtlich vergessen, dass Frankreich 1870 von Großbritannien nicht unterstützt wurde. Und so hoffte das deutsche Militär 1914 mit der Anwendung des Schlieffen-Plans wieder auf einen schnellen Sieg. Gleichgültig, ob die Briten sich auf die Seite Frankreichs stellen würden, Frankreich würde entscheidend geschlagen werden, selbst wenn die Briten mitbeteiligt wären. Im November 1914 schrieb Moltke: «Wiederholt ist auch im Generalstab die Frage geprüft worden, ob wir nicht besser täten, einen Defensivkrieg zu führen. Sie wurde immer verneint, da mit ihm die Möglichkeit hinfällig wurde, den Krieg so bald wie möglich in Feindesland zu tragen. Mit der Möglichkeit, dass Belgien zwar gegen einen Durchmarsch protestieren, aber sich demselben nicht mit Waffengewalt entgegenstellen werde.»(5) Die deutsche (insbesondere die preußische) Militärkaste verlangte einen glorreichen offensiven Sieg auf fremdem Boden, wie er 1870 bei Sedan gelang. Sie wollte keinen langen Verteidigungskrieg auf deutschem Gebiet führen; jedoch wäre sie mit einem Verteidigungskrieg an beiden Fronten besser vor der Welt dagestanden. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, dass die preußische Militärkaste sich um solche politischen Erwägungen wenig kümmerte. Von Moltke war sich ihrer genügend bewusst, um den Schlieffen-Plan so abzuändern, dass sowohl der Einmarsch in die Niederlande als auch in Belgien vermieden werden konnte. Es war ihm aber nicht möglich, eine Strategie zu entwickeln, die grundsätzlich verschieden von derjenigen Schlieffens war, obwohl er von 1906 bis 1914 Generalstabschef war. Daher hatte der belgische Faktor in der deutschen Militärplanung Großbritanniens Eingriff in den Krieg zur Folge. Das brachte nicht nur die deutsche Strategie in der entscheidenden Marneschlacht von 1914 durcheinander, sondern garantierte auch einen lang dauernden Krieg, wozu britisches Vorgehen in der europäischen Geschichte immer neigte (z.B. Großbritanniens Kriege gegen Louis XIV und Napoleon). Möglicherweise Schließlich erwies sich die britische Teilnahme als Hauptfaktor für Amerikas Kriegseintritt 1917.


Obwohl viele behaupten, dass Helmuth von Moltkes Handlungsweise zum deutschen Misserfolg an der Marne führte und sogar, dass der Krieg nach der Marne für Deutschland grundsätzlich verloren war, kann man jedoch behaupten, dass «der belgische Faktor» in Moltkes Planung, welcher die Briten hineinzog, schließlich auch zum Niedergang des britischen Reiches führte. Der Aufwand, welcher für den Sieg über Deutschland notwendig war, erwies sich für die Briten als ein solcher Pyrrhussieg(6), dass das Empire bis 1919 tatsächlich tödlich getroffen wurde und in der darauffolgenden Jahrhunderthälfte mehr und mehr zerfiel. Die Entscheidung des deutschen Generalstabs unter Helmuth von Moltke, einen Verteidigungskrieg an beiden Fronten zu führen, hätte jede Verletzung der belgischen Neutralität ausgeschlossen und damit auch die Möglichkeit des Einsatzes des britischen Heers, um Frankreich zu Hilfe zu kommen. Die britische Liberale Partei als Ganze und das britische Volk hätten einen Krieg für Frankreich niemals gutgeheißen; deshalb war der belgische Scheingrund unerlässlich, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Das Lager, welches die Intervention befürwortete, war sich dessen allzu bewusst. Greys historische Rede im Parlament am 3. August sowie die darauffolgende britische Propaganda durch die Regierung und die Presse sicherten diese Unterstützung.


Von Moltkes Taten von 1914 – sein Erfolg und sein Versagen – waren deswegen für den Osten wie für den Westen von weltgeschichtlicher Bedeutung: Sein sofortiges Handeln im August 1914 hielt die Russen davon ab, Ostdeutschland zu überrennen, aber der offensichtliche Fehler seiner Strategie im Westen führte letztlich zum Niedergang des deutschen und des britischen Reiches.


Gen. Sir Richard Shirreff, Nato-General und «Deputy Supreme Allied Commander Europe» 2011-2014

2017: Krieg mit Russland?

In seinen Post-mortem-Mitteilungen, – Miteilungen, die von 1916 bis 1924 von Rudolf Steiner aufgezeichnet und an von Moltkes Ehefrau Eliza weitergegeben wurden – bringt die Individualität Moltkes deutlich zum Ausdruck, dass er seine Fehlschläge von 1914 und diejenigen Deutschlands in den vorangehenden Jahrzehnten verstanden hat. Weiterhin hat er durchschaut, dass die Zukunft Europas von der gesunden Beziehung zwischen Mittel- und Osteuropa abhängt. Es ist bemerkenswert, dass fast genau einen Monat vor dem 100. Todestag von Helmuth von Moltke, der im 20. Jahrhundert ein solch ungeheures militärischen Schicksal hatte, das Ost-, Mittel- und Westeuropa beeinflusste, im Westen, in England, ein General als Verfasser eines Buchs in Erscheinung tritt, welches einen Krieg zwischen Russland und dem Westen für das Jahr 2017, hundert Jahre nach der russischen Revolution, voraussagt. Am 19. Mai erschien der britische General Sir Richard Shirreff (geboren 1955), der von März 2011 bis März 2014 stellvertretender oberster alliierter Befehlshaber der NATO für Europa war, im BBC-Radio, um über sein am gleichen Tag veröffentlichtes Buch 2017: War with Russia – An urgent warning from senior military command(7) zu sprechen. Im Vorwort zu seinem Roman, den er nicht als «Fiktion», sondern als «tatsachenbezogene Voraussage» bezeichnet, schreibt Shirreff, dass der Krieg des Westens mit Russland bereits begonnen hat: er begann im März 2014 in der Ukraine. Er sieht den Beginn der Krise in der 2008 gemachten «naiven Zusage für die NATO-Mitgliedschaft» der Ukraine: «eine Zusage für die kollektive Verteidigung, die militärisch nie durchgeführt werden könnte.» Man erinnere sich an die anglo-französische Zusage an Polen im März 1939… Diese Zusagen schienen fast wie dazu gemacht, ihre Empfänger zu voreiligem Handeln zu animieren im Hinblick auf die mächtigen Länder, die der Westen eigentlich zu besiegen versuchte. Aber «diesen Krieg», schreibt Shirreff, «könnten wir noch vermeiden, falls wir sofort handeln». Am Schluss seines Vorworts zitiert General Schirreff Trotzki (!): «Ihr interessiert euch vielleicht nicht für den Krieg, aber der Krieg interessiert sich für euch», was mit anderen Worten vielleicht so zu formulieren ist: «Das Volk ist vielleicht nicht interessiert am Krieg, aber die Generäle wollen das Steuergeld des Volkes.»


Schirreffs Buch ist das jüngste in der unwürdigen Tradition der kriegshetzerischen und Angst machenden britischen Fiktion, welche die Öffentlichkeit in eine außenpolitische Richtung zu «schubsen» versucht, die gerade von bestimmten Elitekreisen gewünscht wird. Diese Tradition begann wohl mit dem Buch The Battle of Dorking: Reminiscences of a Volunteer, ein Roman, der 1871 gleich nach dem deutschen Sieg über Frankreich herausgegeben und von George Tomkyns Chesney, Kapitän der Königlichen Pioniere, verfasst wurde. Es beschreibt die erfolgreiche Invasion Großbritanniens durch ein deutschsprachiges Land und das Ende des britischen Reiches. Auf dieses Buch folgten The Great War in England in 1897 von William Le Queux (1894), War of the Worlds von H.G. Wells (1898), The War in the Air (1907), Riddle of the Sands von Erskine Childers (1903), The Invasion of 1910 von Le Queux (1906), When William Came von «Saki» (Pseudonym für Hector Hugh Munro) (1913) und The Thirty-Nine Steps von John Buchan, das 1914, noch vor dem Kriegsausbruch geschrieben wurde, aber erst 1915 erschien. All diese außerordentlich populären Bücher, von denen einige mit Einleitungen oder Empfehlungen führender Persönlichkeiten wie Feldmarschall Lord Roberts versehen waren, hatten den wesentlichen Zweck, die öffentliche Meinung auf den Krieg vorzubereiten.(8)

Die EU als das neue Römische Reich

Für die klassisch gebildete britische Elite wurde damals die Zivilisation selbstverständlich mit der Welt des antiken Griechenlands und Rom identifiziert, als dessen Nachfolger sie sich sahen. Für die Mitglieder der «Tafelrunde»-Bewegung von Lord Alfred Milner (gegründet 1909) bestand zum Beispiel die Rolle Großbritanniens darin, «Freiheit und Licht» (die Grundlagen desjenigen, was sie für ein föderiertes Commonwealth hielten) gegen «Theokratie und Finsternis» durchzusetzen, welche sie als die autokratischen Grundsätze Asiens und der Mittelmächte betrachteten. Die «Tafelrunde»-Bewegung, in der Milner und seine Gefolgsmänner den Traum des Minenmagnaten Cecil Rhodes von einer Welt unter angloamerikanischer Herrschaft fortzusetzen suchten, wurde von einer geheimnisvollen Gruppe geleitet, welche Rhodes eine Art englischsprachigen Jesuitenorden nannte. Dieser teilte sich 1914 in zwei Flügel: der eine, konzentriert auf den imperialen britischen Staat und von Milner selbst und den älteren Mitgliedern aufrechterhalten, glaubte weiterhin an ein föderiertes Reich der englisch sprechenden Völker. Für diese älteren Männer hatte sich «die Welt um das britische Reich wie um einen Kern zu vereinigen.»(9) Die jüngeren Leiter der «Tafelrunde», wie Lionel Curtis und Philip Kerr hatten mehr mystische Ideen: das Empire sollte sterben und als ein Weltstaat oder «Commonwealth of Nations» wiedergeboren werden; diese Leute bekannten sich später zum Völkerbund und zur UNO. Sowohl die älteren als auch die jüngeren Mitglieder glaubten jedoch an eine Form von globalem Föderalismus unter der Führung der englischsprachigen Völker.

Diese Gedanken von Curtis und Kerr wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute in verschiedenen angloamerikanischen Institutionen fortgeführt. Eine solche ist die 1988 gegründete Lothian Foundation (Kerr war 11. Marquess of Lothian in Schottland; die Kerrs sind eine alte schottische Adelsfamilie). Diese Stiftung ist bemerkenswert zurückhaltend, auch online. Seit 1989 ist ihr Direktor Andrea Bosco, ein italienischer Professor, ad personam Jean Monnet Lehrstuhlinhaber und Experte des Jean Monnet-Kompetenzzentrums an der Universität Florenz in Italien.(10) Er veranstaltet Vorlesungen und Konferenzen in Zusammenarbeit mit dem Chatham House (Royal Institute of International Affairs) und britischen Universitäten, um für eine EU-befürwortende britische Außenpolitik einzutreten. Aus den zwei Bänden, die er unter dem Titel The Federal Idea Vols 1 and 2 herausgegeben hat, ist ersichtlich, dass Bosco sehr gute Beziehungen zu den transatlantischen und kontinentaleuropäischen akademischen Eliten hat. Während einer Jean-Monnet-Konferenz über «EU Eastern Partnership», die vom 11. bis 13. Juni 2014 in Riga, Lettland, stattfand, hielt Bosco einen Vortrag mit dem Titel «EU-Russia Relations in a Prospect of Further Enlargement of the EU» [EU-Russland-Beziehungen mit Aussicht auf die künftige Erweiterung der EU]. Diese ist eine der seltenen Vorlesungen Boscos, die online verfügbar sind.(11) Zuerst führt er aus, dass die EU in der Zukunft nicht schrumpfen wird und behauptet dann,  dass sie sich erweitern wird. Wo als Nächstes, fragt er. Es werden die Balkanländer sein und dann kommt das, was er «östliche Erweiterung» nennt. Er sagt, damit meine er «die Türkei…, die Ukraine, aber auch den Nahen Osten [Hervorhebung TB]. In der nächsten Zeit wird der Nahe Osten in die Europäische Union einbezogen werden… nicht nur im Handel, sondern auch in Bezug auf die Stabilität…» Die EU wird imstande sein, «ein Drehbuch zu schreiben», das allen Konflikten und Spannungen ein Ende setzen wird. Er sagt weiter, dass sich «die EU nach Nordafrika erweitern könne… Kandidaten wie Marokko, Tunesien, Libyen, Ägypten mögen einsteigen. Stellen wir uns eine Union mit 50 Mitgliedsstaaten vor! Einige junge Leute in diesem Saal könnten eine Union mit 50 Mitgliedsstaaten sehen» (so etwa um 2050), «wie die USA mit 14 [sic!] Kolonien begonnen haben». Der amerikanische Föderalismus war immer das Modell für europäische Föderalisten, einschließlich der Mitglieder der «Tafelrunde».

                                  Prof. Andrea Bosco als junger Mann

Der Euro, sagt Bosco mit Hybris, hat die EU vom «Objekt der Großmächte», das sie seit den 1950er Jahren war, in ein «global handelndes Subjekt» umgewandelt. Die Anziehungskraft der EU besteht nicht nur im Euro und im Handel, sondern auch «politisch, mehr als ökonomisch»; sie formt «ein System, das so mächtig ist…, dass kein Land, kein Länderbund in der Lage ist, sie herauszufordern». Er betont, dass niemand auf der Welt fähig ist, die NATO herauszufordern, und die «NATO ist das Geheimnis der Stärke der politischen Anziehungskraft der Europäischen Union.» Mit anderen Worten: er sagt, dass die NATO – deren Streitkräfte selbstverständlich immer amerikanischem Kommando unterliegen – de facto die Streitmacht der EU sei!

Die EU und Russland

«Das gegenwärtige Problem ist Russland», meint Andrea Bosco. Heute «ist Russland ein neoimperialistischer Staat»… Was ist heute Russlands Rolle in der Welt? Gleich Frankreich, sagt er, ist Russland ein revolutionärer Staat: «Die französische und die russische Revolution besitzen einen allgemeinen Wert. In der russischen Revolution haben wir ökonomische Klassenprivilegien abgeschafft, in der französischen Revolution haben wir die politischen Klassenprivilegien abgeschafft» (zu beachten ist hier der Wortgebrauch «wir»). Bosco setzt diese zwei Revolutionen in Beziehung zu zwei Pfeilern oder «Beinen», auf denen Europa wandeln muss: «Individualismus und Gemeinschaftswerte». «Die großen Errungenschaften der Erweiterung sind und werden auch weiterhin  diese zwei Werte sein.» Die EU, sagt er, ist keine geographische, religiöse oder an Rassen gebundene Organisation. Was ist sie dann? «Die EU ist hauptsächlich eine Organisation, die fähig ist, zwischenstaatliche Auseinandersetzungen zu lösen – das ist sie. Das ist ihre Stärke und deshalb kann sie exportiert werden. Früher haben wir die Konflikte durch Kriege gelöst und jetzt lösen wir sie verfassungsmäßig.» Und dann kommt er zu einem Punkt, den er früher ausgelassen hat: infolge dieses Aspekts der Konfliktlösung, sagt er, kann die EU Israel, Palästina und Syrien aufnehmen, «was bedeutet, dass die dynamischsten Konfliktquellen der Welt seit dem Untergang des römischen Reiches für immer stabilisiert werden.» [Hervorhebung TB].


Was hat denn Bosco in alledem beschrieben? – Pax Romana. Den Aufbau eines «Staates», einer «Struktur», wie er sie nennt, die alle die früheren Länder des römischen Reiches enthält, ebenso wie diejenigen in Nordeuropa, die nicht zum römischen Reich gehörten. Es ist das wiedergeborene erweiterte römische Reich, vorgeführt von einem Italiener unter der Flagge des französischen Transatlantikers Jean Monnet und des britischen Neoimperialisten Philip Kerr, Lord Lothian. Wir können uns hier an Rudolf Steiners Worte erinnern, die er am 29. November 1918 (GA 186) in Dornach gesagt hat: «Wenn man sachgemäß untersucht: Warum ist das westliche Menschenbild ein Gespenst? – so stellt sich… heraus, dass in die Instinkte, die zum Bild des Menschen geführt haben im westlichen Gebiete… zugrunde liegt das Gespenst des alten römischen Reiches…. Das ist nichts, was lebt, das ist etwas, was spukt wie das Gespenst eines Verstorbenen… Das Gespenst des Romanismus geht um im Westen.»


Bosco weist uns aber am Ende seines Vortrages darauf hin, dass wir in dem Streben nach dieser Pax Romana «ein Problem mit Russland…, einen Zusammenstoß mit Russland haben werden, da Russland die Erweiterung dieser Union nicht gerne sehen wird». Erinnern wir uns, dass das persische Reich in ähnlicher Art nicht gerade «glücklich» darüber war, zuzusehen, wie das römische Reich sich immer mehr in Persiens Machtbereich ausdehnte. Dann erinnert Bosco seine Zuhörer nachdrücklich, dass die EU infolge des Kalten Kriegs eine Gemeinschaft und dann eine Union geworden ist: «Ohne die Existenz der Sowjetunion, wären wir nie das geworden, was wir geworden sind. Die Vereinigten Staaten haben uns unter gewaltigen Druck gesetzt, dass wir uns vereinigen.» Und er fügt hinzu, dass Jean Monnet, der zwischen 1940 und 1943 in Washington war, «sich von amerikanischen Intellektuellen und Beamten dazu überreden ließ, nach Europa zurückzukehren und für die europäische Einheit zu arbeiten.» (Das war vor dem Kalten Krieg!) «Die Amerikaner übten grundlegenden Einfluss auf unser Geschäftsleben aus, da wir einen Kalten Krieg hatten.» Schließlich erwähnt er jetzt Putin, und beschreibt ihn auf rätselhafte Weise als «den erheblichsten Faktor für die politische Union Europas» und schließt mit den Worten, dass Europa ein politischer Staatenbund werden und eine Verfassung bekommen muss, denn «nur eine föderalistische Regierung kann dem Euro und der Eurozone die Instrumente – nicht nur ökonomische, sondern auch politische und soziale – für das Überleben bereitstellen.» Ohne es auszusprechen, behauptet Bosco, dass Spannung, Zusammenstoß und Konflikt – ein neuer Kalter Krieg mit Russland – notwendig sind, damit die EU diejenige Art von politischem Staatenbund und Rechtsstaatssystem wird, die er und seine Verbündeten sehen wollen. Genauso benützten die Amerikaner im ursprünglichen Kalten Krieg den Konflikt mit Russland dazu, die Europäer dazu zu drängen, erst eine Gemeinschaft, dann eine Union zu gestalten. Als Rudolf Steiner am 15. Januar 1917 (GA 174) die britische Weltpolitik darlegte, betonte er: «Will man nämlich eine kommerziell-industrielle Weltherrschaft begründen, so muss man das Hauptgebiet, auf das es ankommt, zunächst in zwei Teile teilen. Das hängt zusammen mit der Natur des Kommerziell-Industriellen. Ich kann mich nur durch einen Vergleich ausdrücken: Es fordert dasjenige, was auf der Welt des physischen Planes geschieht, immer eine Zweispaltung.»


Um ihr politisches neo-römisches Reich zu errichten, fühlen sich die Eurokraten und ihre Kollaborateure, so wie Bosco, gezwungen, sich Russland zum Feind zu machen. Ihre zentralisierten Vereinigten Staaten von Europa können mittels eines Konflikts zwischen Russland und dem Westen aufgebaut werden. General Sir Richard Shirreff und sein Buch 2017: War with Russia sind ein Teil der nächsten Phase in diesem Prozess. Der Versuch aber, das tote Gespenst des römischen Reiches wiederzubeleben, wird im Endeffekt wahrscheinlich nur zu einer weiteren, noch gewaltigeren Ost-West Katastrophe führen, als es die zwei Weltkriege waren.


Im neunten Jahrhundert hatte die Moltke-Individualität als Papst Nikolaus I. die Aufgabe, Mitteleuropa und Osteuropa voneinander zu trennen. 1914 fand sich Helmuth von Moltke an dasselbe Karma gebunden, begann aber, sich davon zu befreien – mit der tatkräftigen Hilfe seiner Gattin Eliza, die sein Gefährte im neunten Jahrhundert gewesen war. Nach seinem Tode erkannte er, dass seine zukünftige Aufgabe darin besteht, sich nach Osten zu wenden und mitzuhelfen, Mittel- und Osteuropa zum Wohle Europas und der ganzen Welt zusammenzuführen. Die Völker Mitteleuropas würden gut daran tun, die Worte der Moltke-Individualität in seiner Mitteilung vom 23. März 1918 zu beherzigen: «Man darf sich dem Osten nicht bloß mit ökonomischen Gedanken nähern; man muss so denken, dass der Osten ein spirituelles Verständnis für den mitteleuropäischen Menschen erreicht… Im Osten ‹warten› viele Menschen, die ‹gefunden› werden müssen, weil sie ‹verstehen› könnten, wenn man in der rechten Art zu ihnen sprechen würde. Jeder Versuch, sich denjenigen ‹östlichen Menschen› verständlich machen zu wollen, welche ‹westlich› geworden sind, ist vergeblich. Mit dem ‹Westen› werden diese Menschen verdorben, weil sie ihr eigenes Wesen ausrotten, wenn sie ‹Westliches› annehmen.» Die Völker im Westen müssen sich klarmachen, wie ihre Eliten, getrieben von ihrem römischen Gespenst, seit mehr als hundert Jahren Unruhe zwischen Mittel- und Osteuropa gestiftet haben.

Terry Boardman, Stourbridge (England)

Übersetzung aus dem Englischen: Gabor Wirth Veres und Brigitte Eichenberger

Anmerkungen:

(1) Helmuth von Moltke 1848–1916. Dokumente zu seinem Leben und Wirken, herausgegeben von Andreas Bracher und Thomas Meyer, Perseus Verlag Basel, Band 1, S. 403.
(2) a.a.O. S. 457.
(3) a.a.O. S. 456.
(4) a.a.O. S. 452.
(5) a.a.O. S. 403.
(6) a.a.O. Band 2, S. 216.
(7) http://www.telegraph.co.uk/news/2016/05/17/britain-has-become-semi-pacifist-under-cameron-says-retired-gene/
(8) Vgl. A.J.A. Morris, The Scaremongers – The Advocacy of War and Rearmament 1896–1914, London 1984.
(9) Carroll Quigley, The Anglo-American Establishment (New York 1981), S. 126.
(10) Der Autor dankt Dr. Markus Osterrieder dafür, dass er ihn auf die Lothian Foundation und Andrea Bosco aufmerksam machte.
(11) Zu Boscos Vortrag siehe: https://www.youtube.com/watch?v=6U-BOPN7FRI