Lord Stanhope und die Gegenspieler Kaspar Hausers
Posted by Terry Boardman on Aug 14, 2024 in auf deutsch, kaspar hauser, most recent | 0 commentsDieser Vortrag von Terry M. Boardman wurde bei den zweijährlichen Kaspar-Hauser-Festspiele in Ansbach Deutschland am 1. August 2020 durch Eckart Boehmer, der Intendant der Festspiele, vorgelesen.
In verschiedenen Kulturen halten Menschen Vorträge auf unterschiedliche Weise. In Japan ist es beispielsweise nicht üblich, einen Vortrag mit einem Witz oder etwas Unbeschwertes zu beginnen. In England dagegn ist das sehr oft der Fall – um das Eis zu „brechen“, wie die Briten sagen, das Eis, von dem angenommen wird, dass es bereits zwischen Sprecher und Publikum etwas kaltes besteht. Kein Wunder, dass die Briten von anderen Völkern als „kalter Fisch“ angesehen werden! Tatsächlich ist eine solche Gewohnheit ein Beispiel einer „sanften Manipulation“, die darauf abzielt, dem britischen Redner einen herzlichen Empfang zu sichern, bevor seine Gedanken von den Zuhörern überhaupt gehört werden.
Ich möchte jedoch zunächst Eckart Böhmer meinen Dank aussprechen, dass er mich eingeladen hat, um bei den Festspielen erneut einen Beitrag zu bringen, und ihm auch dafür danken, dass er meinen undeutsch-klingenden Beitrag zu Ihnen bei dieser Veranstaltung liest. Ich werde diesem Dank zwei Entschuldigungen folgen, die ich am Anfang machen muss: erstens eine Entschuldigung, dass ich nicht hier dabei bin, um meinen Vortrag selbst zu halten – ich werde gleich den Grund dafür erklären – und zweitens, dass dieser Beitrag vorgelesen werden muss, weil mein Deutsch nicht gut genug ist, um frei zu sprechen. Sie können daher auch eine Reihe unnatürlicher deutscher Ausdrücke und grammatischer Fehler hören, für die natürlich ich allein schuldig bin, und für die ich bitte um Ihre Verständnis und Geduld.
Der Grund warum ich heute nicht hier anwesend bin, hängt indirekt mit dem Thema meines Vortrags zusammen. Obwohl ich mich sehr darauf gefreut hatte, wie immer, nach den Kaspar Hauser Festspielen zu kommen, habe ich mich selbst entschieden, dieses Jahr nicht teilzunehmen, weil ich mich weigere, aus England nach Deutschland und zurück eine Gesichtsmaske tragend zu reisen. Unter den gegenwärtigen Umständen halte ich es für völlig ungerechtfertigt. Es hat sich nicht nur gezeigt, dass Gesichtsmasken ungesund sind – es gibt viele Beweise dafür -, sondern es besteht auch keine Notwendigkeit für die Öffentlichkeit, sie in dieser sogenannten Coronavirus- „Krise“ zu tragen. Die grobe Überreaktion der meisten Regierungen auf COVID-19 hat dazu geführt, dass sie extreme Maßnahmen ergriffen haben, autoritäre Maßnahmen, die uns alle erstaunt hätten, wenn uns am Anfang dieses Jahres mitgeteilt worden wäre, dass solche Maßnahmen innerhalb von drei oder vier Monate in Kraft sein würden. Wir hätten das für absurd gehalten. Wenn wir jedoch den im Mai 2010 veröffentlichten Bericht der Rockefeller Foundation (Titel des Berichts: „Szenarien für die Zukunft der Technologie und der internationalen Entwicklung“) gelesen hätten, in dem vier Szenarien für die nahe Zukunft bis dem Jahre 2025 beschrieben sind, von denen einer im Bericht „Lockstep“ genannt wird, dann wären wir nicht überrascht gewesen, denn dieses Lockstep-Szenario beschreibt fast genau, was in diesem Jahr 2020 passiert ist: eine globale Pandemie, gefolgt von autoritären Reaktionen der Regierungen. Diese autoritäre „Sperrung“ – ein Begriff, der aus dem amerikanischen Gefängnissystem stammt – ereignete sich in den meisten Ländern und wurde nur langsam aufgehoben. Die Medien sagen uns wiederholt, dass die Gefahr noch nicht vorüber werde bis wir uns alle einer Impfung unterziehen, die durch Bill Gates, die Oxford Universität und einige angloamerikanischen Unternehmen zur Verfügung gestellt wird.
Ich komme jetzt gleich zu dem Punkt, der die Koronaereignisse mit dem Thema von Lord Stanhope und Kaspar Hauser verbindet: die autoritäre Kontrolle der Gesellschaft im Interesse von kleinen oligarchischen Gruppen.
Denn die europäische Gesellschaft selbst nach dem Wiener Kongress 1815 wurde auch sozusagen „gesperrt“. Es wurde politisch gesperrt, was die Unterdrückung der Redefreiheit und der politischen Rechte der Bürger durch die Aristokraten und Oligarchen betraf. Diese Leute wollten die vor der französischen Revolution, zum Status quo ante von 1789, oder ihm so nahe wie möglich zurückkehren wollten. Leute wie Prinz Klemens von Metternich, der damalige Kanzler von Österreich, wie König Ludwig XVIII. von Frankreich, und Lord Liverpool, [dt:Liwerpul] der britische Premierminister, und Lord Castlereagh [dt:Kasselreh], der britische Außenminister. Sie waren Männer des 18. Jahrhunderts, die im neuen 19. Jahrhundert versuchten, die unaufhaltsam wachsenden Kräfte der Demokratie und des Nationalismus zurückzuhalten, die durch die französische Revolution und die darauf folgenden napoleonischen Kriege ausgelöst worden waren. Aber diese Kräfte stammten nicht ursprünglich aus der französischen Revolution und Napoleon. Sie waren seit dem 15. Jahrhundert, seit der Zeit von Jan Hus, Jeanne d‘Arc und später von Martin Luther, langsam aber stetig gewachsen und wurden nur durch die vulkanischen Ereignisse der französischen Revolution und die darauf folgenden Ereignisse stärker in Schwung gebracht. Sie waren die Kräfte des individuellen Bewusstseins, die sich gegen die alten erblichen, und blutgebundenen aristokratischen Kräfte des Privilegs und der Hierarchie durchsetzten, die durch Jahrtausenden ganze Gruppen von Menschen zur lebenslangen Unterwürfigkeit verurteilt hatten.
Die Geschichte zeigt uns viele Beispiele für polare Kräfte, die in enger Beziehung entweder gleichzeitig oder in enger Reihenfolge auftreten. Heute sind die Kräfte des demokratischen individuellen Bewusstseins, die im 15. Jahrhundert entstanden sind, stärker als je zuvor, aber sie werden jetzt mit dem Aufstieg einer neuen Art von Aristokratie konfrontiert – der von Finanziers, Technokraten und den Meistern der Computerwelt und der Internet-basierten Technologieunternehmen. Es ist diese neue Aristokratie, die nun versucht, die COVID-Krise auszunutzen und die Gesellschaft so zu verändern, dass sie davon profitieren kann. Das wird allzu spürbar wenn man z.B. in die Website des Weltwirtschaftsforums (WEF) ankuckt. Zu Kaspar Hausers Lebzeiten waren neben den alten Aristokratie um den Thron und Altar die “neuen Aristokraten” die der Banker, der großen Kapitalisten, der Ingenieure und der Verleger.
Konservative wie Metternich und sein rechte Hand, Friedrich von Gentz, hatten einen weiteren wichtigen Grund, nach dem Wiener Kongress keine Veränderungen in Europa sehen zu wollen. Als Männer des 18. Jahrhunderts teilten sie einen kosmopolitischen Lebensstil mit Aristokraten in ganz Europa, insbesondere wenn sie römisch-katholisch oder freimaurerisch waren und eine Ausbildung in französischer Sprache und Kultur sowie in klassischen Sprachen und Kulturen erhalten hatten. Solche Leute hatten Angst vor den radikalen nationalistischen Kräften, die durch die französischen Revolution und Napoleon einen großen Schub erhalten haben. Diese Kräfte hatten sich nun in ganz Europa ausgebreitet und waren gegen Napoleon und gegen die ausländischen französischen Unterdrücker gerichtet. Im deutschen Kulturraum war das insbesondere in Preußen der Fall. Der Ruf nach einem nationalistischen vereinten deutschen Einheitsstaat wie diejenige in Großbritannien und Frankreich wurde von jungen Menschen, von Studenten und von Militärkreisen, in der gesamten Gesellschaft immer stärker zu hören. Metternich und Gentz sahen diese neuen nationalistischen demokratischen Kräfte mit Furcht und Verachtung an. Sie waren beider entschlossen, sich einem vereinten deutschen Staat zu widersetzen. Wenn das alte Heilige Römische Reich nicht wiederhergestellt werden könnte, dann waren Metternich und Gentz bereit, einen losen deutschen Staatenbund zu akzeptieren, einen Staatenbund den sie selbst kontrollieren konnten aber keinesfalls ein von Preußen geschaffenes vereinigtes Deutschland. Um das zu verhindern, beschlossen sie, nach 1815 irgendeine Änderungen an den Grenzen der deutschen Staaten zu blockieren.
Als Aristokrat mit einem fünfhundertjährigen Stammbaum und als britischer Geheimagent war es auch Philip Henry, Lord Stanhopes Ziel die Besteigung auf ein europäischen Thron von irgendeinen Verwandte Napoleons. Die Menschen auf dem Kontinent, die mit Stanhope verbündet waren, wollten keine Zunahme der Demokratie in Europa. Ihre Furcht vor dem, was aus der französischen Revolution hervorgegangen war, war sehr groß. Die Angst vor Unordnung, das Umkippen der Hierarchie. Sie glaubten an die fortgesetzte Beherrschung von Gesellschaft und Kultur durch die Aristokratie, durch Thron und Altar. Infolgedessen gehörten die Jahre 1815 bis 1830 zu den repressivsten und konservativsten in der modernen europäischen Geschichte. Stanhope spielte dabei eine Rolle. Er hatte einen großen Hass auf Bonaparte, der sicherlich kein Heiliger war, und wurde von Aristokraten auf dem gesamten Kontinent als Förderer von Anarchie und sozialer Unordnung angesehen – “der große Störer”. Der ‚verlorene Prinz‘ von Baden - Kaspar Hauser – daran zu hindern, seinen rechtmäßigen Platz als Großherzog von Baden einzunehmen und damit die Möglichkeit einer radikalen Herausforderung aus Baden kommend für das alte Regime zu verhindern, das nach der Niederlage Napoleons in ganz Europa wiederhergestellt worden war – das war Stanhopes Ziel, seine Mission. Und der Schüsselpunkt – Napoleon Bonaparte war der Adoptivvater von Kaspar Hausers Mutter Stephanie de Beauharnais. Ihr Mannheimer Hof war nicht so weit von Nürnberg und Ansbach entfernt.
Aber Nürnberg und Ansbach sind in Bayern, das damals wegen eines Gebietsstreits über den Besitz der rhenischen Pfalz badenfeindlich war. In einer früheren Zeit vor der französischen Revolution wäre es möglich gewesen, dass Baden und Bayern diesen Gebietsstreit durch Rückgriff auf den Krieg beigelegt hätten. Aber im sensiblen Zusammenhang der Zeit nach dem Wiener Kongress, als politische Instabilität immer eine Gefahr für die Herrscher der etablierten Ordnung darstellte, hatten die Großmächte, insbesondere Großbritannien und Österreich, beschlossen, den kleinen Staaten gegenüber keine Grenzenveränderungen zu zuzulassen; die auf dem Wiener Kongress genehmigten Grenzen sollten um jeden Preis beibehalten werden. Napoleon lebte noch und seine Anhänger waren noch heimlich aktiv, nicht zuletzt am Hof seiner Adoptivtochter Stephanie de Beauharnais in Mannheim. Die Politik und Machenschaften des österreischischen Kanzler Metternichs beherrschten einen Großteil Europas in der Zeit vom Wiener Kongress bis zur Revolution von 1848 und in den Gebietsstreit zwischen den beiden kleinen Staaten Baden und Bayern bevorzugte Metternich Baden. Die Beziehungen zwischen den Wittelsbachs in München und den Habsburgern in Wien waren selten einfach gewesen und Bayern wurde unter seinem damaligen König Ludwig I. von einem romantischen Nationalisten regiert, der von Metternich und seinem Sekretär Friedrich von Gentz verabscheut wurde. Metternich bemühte sich im Rahmen seiner Politik zur Wahrung des Friedens und der etablierten Ordnung, die Familie Hochberg als Herrscher von Baden an Ort und Stelle zu unterstützen und die badischen Grenzen zu behalten. Die Familie Hochberg hat 1830 durch dunkle Methoden die erbliche regierenden Familie Zähringen, die Familie Kaspar Hauser, ersetzt, die jahrhundertelang in Baden regiert hatte.
Dies mag wie ein obskurer Streit zwischen zwei Kleinstaaten vor 200 Jahren erscheinen, der heute nichts mit uns zu tun hat. Aber dann können wir uns daran erinnern, dass die deutsche Revolution von 1848, die das Schicksal Deutschlands in den folgenden 100 Jahren bestimmt hat, in Baden begonnen hat und auch in Baden geendet hat, wo die Revolutionäre durch preußischen Truppen niedergeschlagen wurden. Viele der Delegierten des Frankfurter Parlaments in den Jahren 1848 bis 1849 kamen aus Baden, und Baden hatte seit einem Jahrhunderte als der liberalste Staat Deutschlands gegolten. Otto von Bismarck in Frankfurt anwesend, um das Verfahren beim frankfurter Parlament zu beobachten. Letztendlich boten die Delegierten in diesem unglückseligen Parlament Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die Krone eines neuen zusammengeschlossenen Deutschlands an. Er hat sie verächtlich ablehnte. Die Parlamentarer hatten sie dem falschen Mann angeboten. Wenn sie jedoch stattdessen dem 36-jährigen Großherzog Kaspar von Baden die Krone angeboten hätten, einem reifen jungen Prinzen von großer persönlicher Integrität, im ganzen deutschsprachigen Raum anerkannt, hätte die deutsche Geschichte – und auch die Geschichte Europas – nach 1848 eine ganz andere Kurs annehmen können. Aber diesem Großherzog Kaspar von Baden stand nicht die Krone eines Deutschen Bundes oder irgendeiner anderen deutschen Zusammenschluss zur Verfügung, da er 15 Jahre zuvor ermordet worden war.
Es gab immer in Deutschland Menschen, die glaubten, dass der Ausländer, der Engländer Lord Stanhope, der Bösewicht in der Geschichte von Kaspar Hauser sei, der Mann, der am meisten für den Tod Kaspars verantwortlich sei. Und tatsächlich entspricht diese „Stanhope-zentrische“ Auslegung den Interessen bestimmter Kreise in Baden und Bayern. Dadurch würde die Verantwortlichkeit weg von den Hofen in Baden und Bayern abgelenkt werden.
Aber die Situation ist nicht so einfach. Ich stimme auch nicht mit der überemotionalen Anschuldigung von Jakob Wassermann überein, der einen schönen Roman über Kaspar Hauser schrieb, Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens aber meines Erachtens die Situation übertrieben dargestellt hat, als er in seinem Roman geschrieben hat, dass Kaspar „von der ganzen Welt getötet wurde“. Das geht auch zu weit. Denn es gab zu Kaspars Lebzeiten viele gute Leute, die Kaspar Hauser schätzten und ihm auf verschiedene Weise geholfen haben. Es kann nicht behauptet werden daß diese Leute Kaspar getötet haben.
Kaspar wurde auf vier verschiedene Arten angegriffen und Stanhope war direkt an zwei von diesen und indirekt an einem anderen beteiligt. Es gab die Angriffe auf Kaspars Körper, als er 1829 angegriffen und 1833 getötet wurde; Stanhope war an diesen Angriffen nicht beteiligt, obwohl er kurz nach dem ersten Angriff, um die Situation zu beobachten, zum ersten Mal in Nürnberg auftauchte. Er war ein sensibler Mann und konnte groben Gewalt nicht ertragen. Er erschien in Nürnberg Oktober 1829 direkt nach seinem Aufenthalt in Wien wo er sich mit dem österreichischen Kanzler Fürst Metternich und seinem Sekretär und Chefpropagandisten Friedrich von Gentz getroffen hat. Zweitens gab es den Angriff auf Kaspars Lebenskräfte, seine körperliche und geistige Gesundheit, nämlich bei der Inhaftierung im Kerker auf Schloss Pilsach von 1817 bis 1828. Der Schloss gehörte Major von Griesenbeck, einem treuen Diener König Ludwigs I. von Bayern. Auch bei diesem Angriff hatte Stanhope nichts zu tun. Durch 11 Jahre lang wußte er nicht wo den verlorene Prinz eingekerkert war. Drittens gab es den Angriff auf Kaspars Seelenleben, sein Gefühlsleben. Stanhope war bei seinem zweiten und längeren Besuch in Nürnberg im Jahr 1831 direkt und persönlich für diesen Angriff verantwortlich. Mit seinen verführerischen Fähigkeiten drang er in die Zuneigung des Jugendlichen ein, bis es so weit ging dass Kaspar selbst die Stadtverwaltung aufforderte, Stanhope als sein Vormund zu ernennen anstelle des gewissenhaften, wenn auch strengen Baron Tucher. Nebenbei sei angemerkt, dass Tucher der einzige Mann in Nürnberg war, der Stanhope durchschaute – wenn auch zu spät.
Stanhope war auch indirekt für psychische Übergriffe verantwortlich, da er als neuer gesetzlicher Vormund von Kaspar Kaspar den Jugendliche von Nürnberg nach Ansbach wegenommen hat und ihn in das Haus des rachsüchtigen Lehrers Meyer und seiner Frau verlegt. Die grausame psychische Verfolgung von Kaspar durch dieses Ehepaars dauerte fast zwei Jahre lang und Meyer griff Kaspar noch viele Jahre nach Kaspars Tod auch in schriftlicher Form an. Solche Schriften waren Teil der letzten Form des Angriffs auf Kaspar, nämlich diejenige die sich auf seine Identität und seine Glaubwürdigkeit, seinen Ruf bezog. Hier auch hatte Stanhope eine groß Verantwortlichkeit aber nicht im Ganzen. Andere Menschen verleumdeten Kaspar Hauser damals und verleumden ihn noch, in unserer Gegenwart. Stanhope hatte nichts mit der Entführung des Fürstenbabys im Jahr 1812 zu tun. Er war damals in Sizilien, auf einer anderen Spionagemission für seine Arbeitgeber im britischen Außenministerium. Er wusste damals nichts über Kaspar Hauser oder seine Eltern. Das Verbrechen der Entführung des Babys durch Reichsgräfin Luise von Hochberg war ein Verbrechen das im Haus Baden begangen wurde. Aber Stanhope war sehr verantwortlich für die Verleumdungskampagne, die er persönlich sowohl mündlich als auch in schriftlicher Form gegen die Glaubwürdigkeit und den Ruf von Kaspar Hauser vor seinem Mord und auch in Deutschland durch zwei Jahre nach dem Mord durchgeführt hat, 1832-1835. Er beschuldigte seinen ehemaligen Schützling einen Lügner und einen Betrüger zu sein. Der Mann, den er für Kaspars Unterbringung in Ansbach bezahlte, der Lehrer Meyer, wiederholte in späteren Jahren ähnliche Anschuldigungen. Dann kam Stanhopes Tochter Catherine, die Herzogin von Cleveland [dt: Kliewland], in einem Buch mit der Titel Die wahre Geschichte von Caspar Hauser – aus offiziellen Dokumenten, das die Herzogin 1893 zur Rechtfertigung ihres Vaters geschrieben hat. Die Herzogin war die Mutter des britischen Premierministers Lord Rosebery, Stanhopes Enkel mütterlicherseits. Obwohl seit Lord Stanhopes Tod fast 40 Jahre vergangen waren, als ihr Sohn Anfang der 1890er Jahre Außenminister war, hätte sie sich vielleicht gewünscht, den anhaltenden Verdacht über ihren Vater zu zerstreuen und Lord Stanhope zu berechtfertigen. Es ist bekannt, daß die Königin Viktoria bereits 1856 wegen des Mordes Kaspar Hausers die Familie Hochberg als verbrecherisch ansah. Im Januar und Februar 1850 kam Großherzogin Stephanie auf Einladung von Königin Viktoria nach England. Die beiden Frauen hatten sich 1845 zum ersten Mal getroffen. Während ihres Besuchs im Januar 1850 reiste Stephanie auch zu Stanhope in sein Landhaus Chevening, wo sie zwei Tage weilte. Ein merkwürdiges Treffen, über das leider hinterlassen hat das Paar schriftlich fast nichts.
Die Männer die Kaspar Hauser getötet haben, wurden vom Engländer Lord Stanhope weder befehlt noch bezahlt. Stanhope war zur Zeit des Mordes in Deutschland reisend und verbreitete Fehlinformationen, um seinen sogenannten Schützling zu diskreditieren. Die Mörder handelten im Interesse der Großherzogin Sophie von Baden, die durch den Bankier Moritz von Haber auch Stanhope bezahlte. Die Gemählin Großherzog Leopolds, sie war eine geborene Schwedin. Sie war entschlossen, dass Kaspar ihren Ehemann Leopold von Hochberg als Herrscher von Baden nicht ersetzen würde und dass ihre Nachkommen den großherzoglichen Thron unbedingt besteigen würden.
Sophies Urenkel war Prinz Max von Baden, der im Oktober/ November 1918 für nur einen Monat der letzte Kanzler des deutschen Kaiserreich wurde – der Mann, der die Kapitulation Deutschlands vor den Alliierten auf der Grundlage von Woodrow Wilsons 14 Punkten anordnete; der Mann der die Abdankung des Kaisers ankündigte und dann am 9. November zurücktrat. Eine große historische Ironie. Das was er getan hat, tat er weil Deutschland am Ende des Weltkrieges, wie Rudolf Steiner es ausdrückte, der Welt gegenüber nichts zu sagen hatte. Deutschland vertritt nichts anderes als das Überlebensbedürfnis und hatte keine Werte und Ideale, die es vor Europa vorlegen (darstellen?) konnte. Steiner hatte 1918 zweimal versucht – das erste Mal in Karlsruhe im Januar – Max von Baden vom Werte der Ideen einer Dreigliederung der Gesellschaft, für die Autonomie der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Sphären, zu überzeugen, aber Prinz Max zeigte wenige Neigung im Sinne dieser Ideen zu handeln. 70 Jahre nach dem Frankfurter Parlament, wo Prinz Kaspar von Baden eine zentrale Rolle hätte spielen können, konnte der Mann, der jetzt Haupt des Hauses Baden und auch Reichskanzler war, nichts für Deutschland vertreten. Seiner Unfähigkeit folgten revolutionäres Chaos, rechte Reaktion und eventuell, der Vertrag von Versailles. Eine andere Ironie ist, dass dieser Mann aus Baden, Prinz Max wurde Reichskanzler , am 3. Oktober 1918. Heutzutage ist der 3. Oktober der Tag der Deutschen Einheit, der deutsche Nationalfeiertag, an dem 1990 die offizielle deutsche Wiedervereinigung gefeiert wird. Ein weiterer bemerkenswerter „Zufall“ ist, dass Adolf Hitler gedient hat in der deutschen Armee an der Front während des Krieges, aber erst während des einzigen Monats der Kanzlerschaft von Prinz Max, im Oktober 1918, wurde Hitler bei einem Angriff britischer Truppen am 13. und 14. Oktober in der Nähe von Ypern vergast. Das war das Ende seiner Zeit an der Front. Sicherlich wissen Sie alle daß Hitler nach Kriegsausbruch 1914 in Bayern in die bayerische Armee eintrat und dass München die Hauptstadt der Wittelsbacher Dynastie war, der erblichen Herrscher Bayerns. So begann Hitlers Krieg in Bayern; er war Soldat in der Armee des bayerischen Königs, dem Teil Deutschlands, in dem Kaspar inhaftiert und getötet worden war, und Hitlers Krieg endete unter der Kanzlerschaft eines Prinzen von Baden, Kaspars Heimat und dem Ort, wovon die Mörder geschickt worden waren. Kaspar wurde 1833 getötet und Hitler kam 100 Jahre später an die Macht. Wie die Eliten im englischsprachigen Raum ihm geholfen haben, an die Macht zu kommen, haben der italienische Historiker Guido Giacomo Preparata in seinem Buch Wer Hitler mächtig machte und Prof. Anthony C. Sutton in Wall Street und der Aufstieg Hitlers gut beschrieben.
Eine Reihe von Deutschen, der Österreicher Prinz Metternich und eine Schwedin, Großherzogin Sophie, waren für die Entführung, Inhaftierung und den Tod von Kaspar Hauser verantwortlich; der Engländer Stanhope spielte die Hauptrolle in der Verführung des Jugendlichen. Stanhope glitt wie eine verführerische Schlange in Kaspars Seele hinein, entfernte Kaspar aus dem Kreis seiner Beschützer in Nürnberg und hat ihn in Isolierung in Ansbach verlassen, wo nur ein einzige Beschützer zu finden war: der Richter und Kriminologe Anselm von Feuerbach. Obwohl es meines Wissens noch keine Beweise dafür gibt, ist es möglich, daß Stanhope Informationen über Feuerbachs Untersuchung des Verbrechens gegen Kaspar nach der Großherzogin Sophie übergab. Zu diesem Zeitpunkt erhielte Stanhope regelmässige Zahlungen von Großherzogin Sophie vermittelt wie gesagt von der Haber Bank in Karlsruhe. Durch Schmeichelei und Täuschung gelang es Stanhope, das Selbstvertrauen und sogar die Bewunderung von Anselm von Feuerbach zu gewinnen. Es ist daher auch möglich, daß Informationen, die Stanhope durch Feuerbach gewonnen und an die Großherzogin in Karlsruhe weitergegeben hat, etwas mit Feuerbachs Tod am 29. Mai 1833 zu tun haben.
Johannes Mayer hat in seinem ausgezeichneten Werk Lord Stanhope – der Gegenspieler Kaspar Hausers schlüssig gezeigt, dass Stanhope von 1812 bis 1816 zunächst als Geheimagent der britischen Regierung im Ausland in Sizilien und dann in Sachsen tätig war. Dies lag daran, dass ihm von seinem exzentrischen Vater Charles, dem 3. Earl of Stanhope, Geld entzogen wurde. Der Vater, ein ungewöhnlich politisch radikaler Aristokrat, missbilligte die konservative Politik seines Sohnes und auch ihm nicht vergeben konnte, dass 1801 sein Sohn aus der Familienhaus in Chevening geflohen ist, um in Deutschland zu studieren. Der junge Stanhope war bei seiner Flucht von seiner Halbschwester Hester, einer engen Freundin ihres beliebten Onkels, des Premierministers William Pitt, und von einem anderen Freund von ihr und einem Untergeordnete Pitts, dem britischen Diplomaten, Francis James Jackson, unterstützt worden. Stanhope studierte in Erlangen, wo Jackson selbst studiert hatte. Jackson hatte auch enge persönliche Beziehungen zu Markgräfin Sophie Karoline von Ansbach-Bayreuth, der Nichte Friedrichs des Großen – und war auch gut befreundet mit Friedrich von Gentz, der später der Sekretär und rechte Hand Metternichs werden sollte. Weniger politisch reaktionär als Stanhope - Gentz hatte bei Immanuel Kant in Königsberg studiert – um das Jahr 1816 teilten Stanhope und Gentz dieselben politischen Ansichten wie Metternich: nämlich, nach den Umwälzungen der letzten 26 Jahre wollten die drei Männer keine oder möglichst wenig Veränderungen in den sozialen und politischen Verhältnissen Europas. Stanhope war wahrscheinlich der reaktionärste der drei Männer und wurde in politischen Kreisen in England nach 1815 als äußerst konservativ in den meisten Fragen angesehen, ganz anders als sein radikaler Vater.
Es waren drei Männer – Francis Jackson und nach Jacksons Tod im Jahr 1814 sein Bruder George Jackson und der Premierminister William Pitt, Stanhopes Stiefonkel – die Stanhope in seine Karriere als Agent geführt haben. Die Pitts und die Stanhopes waren bereits seit drei Generationen verwandt und gingen auf Thomas (Diamond) Pitt zurück, den Schöpfer des Reichtums und Einflusses der Familie Pitt. Bereits 1802 hat Jackson begonnen, die außenpolitische Arbeit als Karriere für Stanhope zu betrachten, aufgrund der sozialen und sprachlichen Talente des jungen Aristokrat. Neben diesen Talente hatte der junge Mann nichts viel anderes anzubieten.
Einige Dokumente sehr sensibler, sogar verschwörerischer Art aus der Zeit von 1802 bis 1804 wurde nach Stanhopes Tod in seinem Nachlass gefunden. Einer dieser Briefe wurde am Premierminister William Pitt geschrieben. Die Dokumente zeigen, dass Stanhope zu diesem Zeitpunkt bereits an außenpolitischen Angelegenheiten interessiert war. Stanhopes Biograf Johannes Mayer schreibt über den an Pitt gerichteten Brief von 1802: Will man nicht unterstellen, dass er [Stanhope] auf unlautere Weise in seinen Besitz gelangt ist, bleibt nur die Erklärung, dass Pitt selbst diesen Brief – von dem sich der Schreiber „unter allen Umständen“ sofortige Vernichtung erbeten hatte – mit einer bestimmten Überlegung weitergab. Der Brief bezog sich auf eine Verschwörung auf höchster Ebene. Darin schlug der Franzose, der Herzog von Orleans William Pitt vor, dass England ihn bei seinen Bemühungen unterstützen sollte, die Schweizer in einen Aufstand, einen Befreiungskrieg gegen Napoleon zu führen. Stanhope freundete sich später mit dem Verwandten des Herzogs an, dem Grafen von Artois. Der Graf wurde später König Karl X. von Frankreich. Er war ähnlich wie Stanhope ein Erzreaktionär und hat im Julirevolution von 1830 seinen Thron verloren.
Im Februar 1802 weilte Stanhope in der Kurstadt Baden-Baden, den Treffpunkt der europäischen High Society, ähnlich wie heute Davos solch ein Treffpunkt geworden ist. In Baden-Baden sollten sich die Macher der Welt versammeln. Stanhopes Biograf Johannes Mayer schreibt: Politik und ihre möglichen Folgen waren sorgenvolles Tagesgesprächin Baden-Baden, und Philip Henry [Stanhope] mit seinem erwachenden Sinn für politischen Zusammenhänge mag hier zu ersten Mal in Kreise von Kennern und Mitakteuren etwas von der Dynamik und der schicksalsgestaltenden Kraft des Korsen [d.h. Napoleon] gespürt haben, – aber auch von der Angst und Ablehnung, dem Spott und Haß gegen ihn und alle Napoleoniden. …. Schon zu Beginn einer auch die Karriere betreffenden Entwicklung befand sich der Agent in spe, ohne es zu ahnen, mitten in einem Geschehen, das ihn noch über Jahrzehnten beschäftigen sollte. Die bevorstehende Erhebung Badens zum Großherzogtum war Resultat einer machtpolitischen Konstruktion Bonapartes, die zwar neue Verbindungen schuf, aber auch Opfer forderte. Für Stanhope sollte sie schicksalsbestimmend werden. [...]
In mondänen Kurstadt… fand Philip Henrys erste Begegnung mit der großen Welt statt. Politische Perspektiven dieses Formats samt ihren dazugehörigen komplizierten kleinen Verhältnissen, die Machtinteressen einzelner und in deren Gefolge all die vielen offenkundigen, aber vorzugsweise geheimen Zwischenträgereien, die zum Tagesgechäft gehörten, der prickelnde Umgang mit den Gewaltigen dieser Welt und womöglich deren Dankbarkeit für diskrete Dienste, das hatte ihn fasziniert, Resonanz in seiner Seele gefunden. Eine erste lebensmässige Bestätigung, diesem Kreis in irgendeiner Weise anzugehören, empfing er hier an einem Platz, den er unter sehr ähnlichen Bedingungen noch oft wiedersehen sollte.
Dieser Besuch in Baden-Baden muß eine Erfahrung von entscheidender Bedeutung für Stanhopes ganzes Leben gewesen sein. Bereits in seinem 21. Lebensjahr hatte ihn sein Schicksal nach Baden geführt, dem Staat, in dem Kaspar Hauser 10 Jahre später geboren wurde. Kaspar würde 1833 im Alter von 21 Jahren sterben, und Stanhope folgte ihm 22 Jahre später.
1802 kehrte Stanhope aus Deutschland nach England zurück. Der berühmte preußische Schriftsteller Friedrich von Gentz, ein Anglophiler, der kürzlich nach Österreich ausgewandert war, kam in diesem Jahr ebenfalls nach England zu Besuch und besiegelte seine Beziehung zur britischen Regierung. Ab diesem Jahr würde er ein gut bezahlter Propagandist für Großbritannien sein, ein ständiger Verfechter des Krieges gegen Napoleon. Stanhope und Gentz würden sich 14 Jahre später in Wien zum ersten Mal treffen. 1816 war Stanhope auf dem Heimweg, nachdem seine zweijährige Spionage in Dresden beendet war. Stanhope hoffte auf eine bequeme Stellung als Botschafter bei einem deutschen Hof, aber offensichtlich hat George Jackson ihm befohlen, Friedrich von Gentz in Wien zu besuchen. Das war nicht der direkteste Weg von Dresden nach England! Dieser Besuch in Wien würde sich als ein anderer wichtigen Wendepunkt in Stanhopes Leben erweisen.
Während des Besuches wurde im Rhein eine Flaschenpost gefunden und in der Moniteur Zeitung einen Bericht darüber abgedruckt. Aus der kryptische Mitteilung in der Flaschenpost war es deutlich, dass eine wichtige Persönlichkeit gegen seinen Willen an einem abgelegenen Ort am Rhein festgehalten wurde. Verdächtige in Wien, Paris, München und natürlich auch in Karlsruhe fragten sich, ob dies der Prinz von Baden sein könnte, der Sohn der Großherzogin Stephanie de Beauharnais, der namenlose Prinz, der kurz nach seiner Geburt 1812 auf mysteriöse Weise gestorben sein soll.
Ab diesem Besuch bei Gentz in Wien, wo die beiden Männer die Botschaft in der Flasche besprochen haben müssen, konzentrierte sich Stanhope darauf, den verlorenen napoleonidischen Prinzen aufzuspüren, den für Stanhope und Gentz zweifellos eine ernsthafte potenzielle Bedrohung gegen alle etablierte Ordnung in Europa darstellte. Er muss um jeden Preis daran gehindert werden, den badischen Thron zu besteigen.
Wir sehen dann, dass eine Frau und drei Männer die wesentliche Rolle bei der Steuerung von Stanhopes Schicksal spielten. Seine Halbschwester Hester, die selbst ein bemerkenswertes Leben führen sollte und als „Königin der Wüste“ im fernen Syrien ihr Leben endete, wandte sich an ihren Onkel William Pitt, um Hilfe bei der Befreiung des jungen Stanhope von seinem tyrannischen Vater zu erhalten. Pitt hatte seine Kontakte in den Bereichen Finanzen und Diplomatie genutzt, um Stanhopes Flucht nach Deutschland zu erleichtern. Der Standort Erlangen war Francis Jackson und seiner Verbindung mit Sophie Karoline von Ansbach-Bayreuth zu verdanken. Schon am Anfang von Stanhopes Beziehung zu Deutschland also finden wir Ansbach, wo sich die Residenz der Markgräfin befand, die Freundin Francis Jacksons. Die Beziehung zwischen Francis Jackson und seinem alten Freund Friedrich von Gentz hatte dazu geführt, dass Stanhope nach Dresden postiert wurde, um die Aktivitäten Preußens in Bezug auf Sachsen im Auge zu behalten. London und Wien waren gegen Berlins Wunsch, Sachsen in der Nachkriegszeit zu erwerben. Der Cousin von Stanhopes Pate, Philip Dormer Stanhope, der 4. Earl of Chesterfield, war in den 1760er Jahren britischer Gesandter am sächsischen Hof gewesen und damals eine dresdene Freimaurerloge führte. In der sächsische Hauptstadt lernte Philp Henry Stanhope einen der bekanntesten Freimaurer Deutschlands kennen – den „allwissenden“ Karl August Böttiger. Stanhope wäre zweifellos ausgestattet mit einem Einführungsschreiben von Gentz’ gutem Freund Böttiger nach Wien gefahren, denn Böttiger hatte der Flüchtling Gentz in Dresden 1806 viel geholfen.
Als Stanhope auf dem Heimweg von Wien nach England war, starb zu Hause in Chevening sein Vater. Stanhopes Reaktion, als er schließlich nach Hause zurückkehrte und vom Tod seines Vaters erfuhr? “Aus tiefstem Herzen danke ich dem Allmächtigen, dass ich diesen glücklichsten Tag erleben konnte.” Ein Mann, der dies über den Tod seines Vaters schreiben konnte, muss eine starke Abneigung gegen seinen Vater empfunden haben, und das war tatsächlich der Fall. Sein Vater war ein Tyrann, der seinen Sohn einem grausamen Bildungsregime unterwarf und ihm zwei Privatlehrer auferlegte, von denen wir vermuten können, dass sie vielleicht den Jungen sogar sexuell missbraucht haben. Es wurde vorgeschlagen, dass einer dieser Lehrer, ein Mann, den Stanhope „den Schurke“ nannte, ihn nach Deutschland begleiten soll, was jedoch vom Premierminister Pitt selbst ausdrücklich mit den Worten „Auf keinem Fall!“ widerlegt wurde.
So hatte Stanhope wie Kaspar Hauser eine beschädigte Kindheit. Und diese beide waren nicht die einzigen in dieser Geschichte die eine solche Kindheit erfuhren. Ludwig I., der König von Bayern, in dessen Untergeordnetes Schloss Pilsach Kaspar 11 Jahre lang in einer Kerker eingesperrt wurde, hatte seines geliebten Kindheitsgebiet verloren, als Napoleon die Region, in der sich Ludwig aufgewachsen ist, von Bayern weggenommen hat und sie dem Großherzogtum Baden übergab. Ludwig verbrachte den Rest seines Lebens besessen von dem Wunsch den ehemaligen bayerischen Pfalz zurückzugewinnen. Und die Großherzogin Sophie von Baden, die den Mord an Kaspar arrangierte, war als Neunjährige zusammen mit ihrem exzentrischen Vater, dem schwedischen König Gustav Adolf IV., nach einem Militärputsch gegen ihn aus ihrem Heimatland zusammen mit ihrer ganzen Familie vertrieben worden. Mit einer jährlichen Zahlung von 66,666 Thaler mußten der König und seine Familie ins Ausland wandern. Die Familie ist in Baden gesiedelt, das Heimatland der Mutter von Sophie. Also die junge Prinzessin Sophie hatte als Neunjährige ihr Elternhaus, ihre schwedische Heimat und ihren Status als königliche Prinzessin verloren. Sie war fest entschlossen, die Position, die sie 1830 als Großherzogin von Baden erlangt hatte, nie zu verloren und sicherlich nicht den Thron an diesen Findling in Nürnberg und Ansbach zu übergeben. Immer mehr Menschen vermuteten, dass Kaspar Hauser und nicht ihres Mannes Leopold von Hochberg der rechtmäßige Großherzog von Baden sei. Nach der französischen Revolution im Juli 1830 kam es in mehreren europäischen Ländern zu revolutionären Umwälzungen. Sophies Ehemann Leopold saß in jenen Jahren unbehaglich auf seinem Thron, nicht zuletzt, weil Baden lange Zeit der liberalste Staat in Deutschland gewesen war; radikale und revolutionäre Stimmen waren dort lauter als anderswo. Und dann muss Sophie 1832 in aristokratischen Kreise gehört haben, dass Anselm von Feuerbach die Ergebnisse seiner Untersuchung des Falles Kaspar Hauser in Umlauf brachte, die schlüssig auf Kaspars wirklichen Ursprung im großherzoglichen Palast in Karlsruhe hinwies. Wir sehen also, dass eine beschädigte Kindheit ein Merkmal mehrerer Hauptfiguren in der Geschichte um Kaspar Hauser war.
Das soll das Verhalten von Sophie, Ludwig und Stanhope nicht entschuldigen. Aber es weist auf das Ausmaß der Unmenschlichkeit in Europa in jenen Tagen hin, in denen Kinder darunter leiden könnten, und natürlich nicht nur die Kinder der Aristokratie. Es war immerhin ein Zeitalter schrecklicher Kinderarbeit in Minen und in den neuen Fabriken. Diese Unmenschlichkeit und harte Behandlung von Kindern war eine Folge der geistigen Entfremdung der damaligen europäischen Kultur nach 200 Jahren eines stetig zunehmenden Materialismus. Menschen, die Kinder so schlecht behandeln konnten, hatten eindeutig vergessen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Die meisten von uns, in diesem materialistischen Zeitalter aufwachsen, verlieren die Unschuld der Kindheit, die Erinnerung an unsere spirituellen Ursprünge – dies wurde am eindringlichsten in den Gedichten eines der größten Dichter Englands, William Wordsworth [dt: Wurdswurth], eines Zeitgenossen von Stanhope, erwähnt. Hier ein Paar Seilen aus Wordsworths Gedicht Hinweise auf die Unsterblichkeit aus Errinerungen an die frühe Kindheit:
Geburt, das ist nur Schlaf und ein Vergessen:
Die Seele, die mit aufgeht uns, die unsres Lebens Stern,
ein anderes Zuhaus hat sie besessen
und kommt daher von fern:
Nicht alles sie vergessen hat,
nicht gleicht sie unbeschriebnem Blatt:
Nach uns ziehend Wolkenglanz und Glorienschein,
von Gott wir kommen, er ist unser Heim:
Der Himmel uns umgibt in Kindertagen!
Die Schatten des Gefängnisses sich langsam schließen,
sobald der Junge wächst heran,
noch nimmt er wahr das Licht und sieht’s vom Ursprung fließen
in seiner Freude Überschwang.
Dem jungen Mann von Osten täglich länger wird die Spur,
noch ist er Priester der Natur
und jene visionäre Kraft
begleitet seine Wanderschaft.
Wie schwach und schwächer sie ihm wird, der Mann noch spürt,
bis sich der Glanz im Licht des Alltags ganz verliert.
Die meisten Leute verfolgen und missbrauchen keine Kinder. Aristokratische Kinder waren von der vorher erwähnten unmenschlichen Behandlung und Leiden nicht ausgenommen. Im Gegenteil, im Namen von Blut und Klasse, Familienstand, Rang und Privilegien waren sie oft gezwungen, schwere emotionale und physische Schwierigkeiten und traumatische Erlebnisse zu ertragen. Leider mußten die Auswirkungen auf ihre geschädigten Seelen dann oft von ihren sozialen Gleichen, ihre Untergeordneten und ihren sozialen Minderwertigen im In- und Ausland erlitten werden.
Stanhopes Charakter war in seiner Kindheit und Jugend allzu offensichtlich verzerrt, und dann im ersten Teil seines Erwachsenenalters durch den Bedarf an Geld. Er wurde ein arroganter und überheblicher Geck (Stutzer?), der sich immer seines Status und seiner körperlichen Erscheinung bewusst war. Zusammen mit seinen exzentrischen, ultrakonservativen Ansichten wurde er im Parlament und in der High Society bekannt, nicht zuletzt wegen seiner Liebe zu zeremoniellen Orden und Dekorationen, seiner parfümierten Perücken und seiner Vorliebe für Orchideen. In der Tat entwickelte er ein exzentrisches Interesse an bizarren Pflanzen aus exotischen Gegenden und diente 1829 bis 1837 als 2. Präsident der Medizinisch-Botanischen Gesellschaft, übrigens sei es bemerkt daß das während der Zeit von Kaspar Hausers 5 Jahren im öffentlichen Leben war.
Diese Gesellschaft, 1821 gegründet, untersuchte die medizinischen Eigenschaften von Pflanzen aus der ganzen Welt, einschließlich solcher, die in Drogen und Giften verwendet werden könnten. Wegen der Weltmachtstellung Großbritanniens, hatten das Imperium, die Regierung und auch das Militär ein großes Interesse an diesem botanisch-medizinischen Wissen. Großbritannien profitierte zu dieser Zeit zum Beispiel stark vom Opiumhandel mit China, der auf Mohn beruhte, und britische Soldaten, Seeleute, Kolonialverwalter und Kolonisten mussten vor verschiedenen Arten exotischer Krankheiten geschützt werden – um das Empire fortzuführen.
Die Gesellschaft wurde zu ihrer Zeit als sehr erfolgreich betrachtet. Über seine Aktivitäten wurde viel berichtet, und zu seiner Mitgliedschaft gehörten elf europäische Souveräne, die gesamte britische Königsfamilie, über zwanzig Mitglieder anderer königlicher Familien und fast alle ausländischen Botschafter in London sowie viele Gelehrte und Experten der medizinischen Welt. Bei einer Gelegenheit, als Stanhope in Deutschland sich befand, - ein Besuch, der kurz nach dem ersten physischen, fast tödlichen Angriff auf Kaspar Hauser Stanhope nach Nürnberg führte, – kam es in der Medizinisch-Botanischen Gesellschaft zu einem Skandal, als ihr Gründer, Dr. John Frost, der zu dieser Zeit der Direktor war und wie Stanhope, ein sehr eitler Mann, am 7. September 1829 im Namen von Stanhope eine Anrede an die Mitglieder hielt und dabei die vielen Medaillen und Insignien der Gesellschaft auf seinem Herrenrock trug. Viele Mitglieder waren der Meinung, dass solche Dekorationen nur von Lord Stanhope, dem Präsidenten der Gesellschaft, getragen werden sollten. Gegen Dr. Frost wurden Beschwerden eingereicht. Als Stanhope nach England zurückkehrte, leitete er im Januar 1830 zwei Gesellschaftstreffen in seinem Londoner Haus, bei denen er Frost gewaltsam angriff und dessen Ausschluss aus der Gesellschaft forderte, der ordnungsgemäß folgte. Frost wurde daher von Stanhope aus der von Frost sich selbst gegründeten Gesellschaft ausgeschlossen und wegen einer Trivialität die nichts mit den tatsächlichen Zielen der Gesellschaft zu tun hatte, sondern nur mit dem sozialen Status und dem Aussehen. Es ist bemerkenswert, dass es eine Gattung mittel- und südamerikanischer Orchideen gibt – später genannt nach Lord Stanhope, der Stanhopea -, die der Botaniker James William Hooker erstmals im selben Jahr 1829 beschrieben hat, ein Jahr nachdem Kaspar Hauser in Nürnberg aufgetreten war und auch ein Jahr nach dem Tod von Stanhopes zweiten Sohn George in Brasilien im Alter von 21 Jahren. Die ersten Exemplare von Stanhopea waren 1818 aus der Karibik nach England gekommen. Die Gattung ist als Stanhopea insignis bekannt. „Insignis heißt „protzig“ – wie Stanhope selbst. Die Gattung hat über 60 Arten und stammt wie gesagt aus Mittel- und Südamerika. Seine Besonderheiten sind, dass sie epiphytisch, d. h. ‚parasitisch‘ auf anderen Pflanzen wächst. Die Blüten sind komplex, sehr duftend, spektakulär und kurzlebig; sie wachsen in feuchten Wäldern, im tiefen Schatten, vermeiden direktes Sonnenlicht und sie wachsen nach unten. Die Gattung ist als „verkehrte Orchidee“ bekannt. Diese Orchideen ziehen Bienen an, indem sie die Form der weiblichen Biene und ihr Sexualpheromon nachahmen. Alle diese Eigenschaften sind im Vergleich zum Charakter des Mannes, nach dem die Stanhopea genannt ist, sehr interessant. Nur das kurzlebige Merkmal passt nicht. Stanhope war 73, als er gestorben ist.
Stanhope war ein Mann seiner Zeit, indem seine Interessen widerspiegelten sowohl die der Aufklärung – der Naturwissenschaften wie der Botanik, aber auch des Fliegens – als auch die der neuen Romantik wie der Geistes- oder Okkultwissenschaften: Mesmerismus, Teetotalismus, Spiritualismus, Magnetismus, Kristallkugel, Kommunikation über die Schwelle des Todes usw. Sein exzentrisches Interesse an exotischen Orchideen ging einher mit seinem ebenso exzentrischen Interesse damals an okkulter Forschung, das von den frühen 1830er Jahren bis zu seinem Tod andauerte. Ich habe dies im Detail in einem Vortrag bei einem anderen Festspiel beschrieben, deswegen werde ich es heute nicht wiederholen, außer um zu betonen, dass Stanhope, wie vom Forscher Jocelyn Godwin in seinem Buch The Theosophical Enlightenment (Die theosophische Aufklärung) ausführlich beschrieben wurde, wohl der engagierteste Engländer in allen Aspekten okkulter Angelegenheiten war in den 1830er, 40er und 50er Jahren. Seine Interessen umfassten das gesamte Thema des Okkultismus damals und er kannte all die Hauptforscher, die auf dem Gebiet tätig waren. 1854, im Jahr vor seinem Tod tauschte er mit seinem Freund, dem ehemaligen österreichischen Diplomaten Freiherr Johann Philipp von Wessenberg, seit Jahrzehnten enger Mitarbeiter von Stanhope und insbesondere von Metternich und Gentz, Briefe über internationale Politik aus, in denen er die Russen als „Nordbarbaren“ bezeichnete, über Okkultismus und ein Instrument für okkulte Experimente. Die vier Männer hatten sich im Sommer 1829 in Wien getroffen, um über Baden und den Fall Kaspar Hauser zu diskutieren.
Schluss
Lord Stanhope ist nicht mehr ganz die rätselhafte Figur, die er vor 50 oder 30 Jahren zu sein schien. Das ist dem zu verdanken, was Jocelyn Godwin in seinem Buch The Theosophical Enlightenment (Die theosophische Aufklärung) über Stanhopes Leben in der Zeit nach Stanhopes Verhältnis mit Kaspar Hauser entdeckt hat, vor allem aber zu verdanken wird Johannes Mayer und seiner außergewöhnlichen Stanhope-Biographie. Hoffentlich kann in naher Zukunft meine Übersetzung ins Englische dieses großen Werkes veröffentlicht werden. Wenig von Stanhopes echtem Charakter und Hintergrund wird in Werner Herzogs wohlbekanntem Film über Kaspar Hauser enthüllt. In Peter Sehrs Film von 1993 wird mehr vom Vorhang zurückgezogen, nicht zuletzt, weil Johannes Mayer ein Berater bei der Entstehung des Films war. Aber es bleibt über Stanhope noch viel zu entdecken, nämlich über seine Verbindungen in Frankreich und auch zu Gentz und Metternich; seine Verbindungen zur britischen Regierung und seine Beziehungen zu den Okkultisten John Varley [dt: Warlie] und Edward Bulwer-Lytton. Varley war eine Schlüsselfigur in der britischen okkulten Szene des frühen 19. Jahrhunderts, und seine Familie war eng mit der Familie Stanhope verbunden. Ich hatte gehofft, in diesem Frühjahr weitere Nachforschungen in den Archiven der Stanhope-Familie anstellen zu können, aber dies wurde durch die COVID-19-Sperrung (Lockdown) unmöglich gemacht. Ich freue mich auf die weitere Arbeit zu diesem Thema das kein unwichtiger Teil des größeren Themas der anglo-deutschen Beziehungen sich bildet. Weitere Artikel und Vorträge von mir zum Thema Lord Stanhope und Kaspar Hauser sowie über andere Themen – einige davon in deutscher Sprache – finden Sie auf meiner Website: www.threeman.org
Und damit nochmal mit herzlichem Dank an Eckart Böhmer für das Vorlesen meines Vortrags und auch an Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld komme ich zum Schluß. Hoffentlich sehen wir uns wieder bei den nächsten Festpiele 2022 wenn all dieser Coronawahn vorbei sein wird. Danke schön.